Das Buch der Geister

Allan Kardec

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Drittes Buch – Moralische Gesetze



KAPITEL I – Göttliches oder natürliches Gesetz



Merkmale des natürlichen Gesetzes

614. Was hat man unter dem natürlichen Gesetz zu verstehen?
„Das natürliche Gesetz ist das Gesetz Gottes, es ist das einzig Wahre für das Glück des Menschen, es zeigt ihm, was er tun und lassen soll und er ist nur darum unglücklich, weil er davon abweicht.“


615. Ist das Gesetz Gottes ewig?
„Es ist ewig und unveränderlich, wie Gott selbst.“


616. Konnte Gott den Menschen zu einer Zeit etwas vorschreiben, was er ihnen zu einer anderen verboten hätte?
„Gott kann nicht irren, die Menschen sind es, die genötigt sind, ihre Gesetze zu ändern, weil sie unvollkommen sind: Gottes Gesetze aber sind vollkommen. Die Harmonie, welche das stoffliche und das moralische Universum regiert, ist auf die Gesetze gegründet, die Gott für alle Ewigkeit festgelegt hat.“


617. Was für Gegenstände umfassen die göttlichen Gesetze? Betreffen sie auch andere Dinge, als das moralische Verhalten?
„Alle Gesetze der Natur sind göttliche Gesetze, da Gott der Urheber aller Dinge ist. Der Gelehrte studiert die Gesetze des Stoffes, der gute Mensch diejenigen der Seele und hält sie auch ein.“


617a. Ist es dem Menschen verliehen, die einen wie die anderen zu ergründen?
„Ja, aber ein einziges Dasein genügt dazu nicht.“


Was sind auch wirklich einige Jahre, um sich alles das zu erwerben, was ein vollkommenes Wesen ausmacht, wenn man auch nur den Zwischenraum zwischen dem Wilden und dem zivilisierten Menschen ins Auge fasst? Die allerlängste Existenz reicht nicht aus, umso weniger also, wenn sie abgekürzt wird, wie dies bei sehr vielen geschieht.


Von den göttlichen Gesetzen ordnen die einen die Bewegung und die Verhältnisse des rohen Stoffs: das sind die physischen Gesetze, deren Studium der Wissenschaft zufällt. Die anderen betreffen im Besonderen den Menschen an und für sich und in seinem Verhältnis zu Gott und seinem Nächsten. Sie umfassen die Regeln über das Leben sowohl des Leibes als der Seele: das sind die moralischen Gesetze.

618. Sind die göttlichen Gesetze für alle Welten dieselben?
„Die Vernunft sagt, dass sie dem Wesen einer jeden Welt angepasst und im Verhältnis zu der Stufe des Fortschritts ihrer Bewohner stehen müssen.“




Quelle und Kenntnis des natürlichen Gesetzes

619. Hat Gott allen Menschen die Mittel gegeben, sein Gesetz zu erkennen?
„Alle können es erkennen, aber nicht alle begreifen es. Die, welche es am besten begreifen, sind die guten Menschen und die, welche es zu erkennen suchen. Eines Tages aber werden alle es begreifen, denn der Fortschritt muss sich erfüllen.“


Die Gerechtigkeit der verschiedenen Inkarnationen des Menschen ist eine Folgerung aus diesem Prinzip, weil seine Intelligenz bei jeder neuen Existenz höher entwickelt wird und weil er besser begreift, was gut und was böse ist. Wenn alles sich in einer einzigen Existenz für ihn vollenden müsste, was wäre dann das Los von so vielen Millionen Wesen, die jeden Tag in der Roheit des wilden Zustandes oder in der Finsternis der Unwissenheit dahinsterben, ohne dass es von ihnen abhängt, sich zu bilden. (171. bis 222.)


620. Begreift die Seele vor ihrer Vereinigung mit dem Leib das Gesetz Gottes besser, als nach ihrer Inkarnation?
„Sie begreift es je nach der Stufe der Vervollkommnung, die sie erreicht hat, und bewahrt die vage Erinnerung daran nach ihrer Vereinigung mit dem Leib. Aber die schlechten Instinkte des Menschen lassen es ihn oft vergessen.“



621. Wo steht das Gesetz Gottes geschrieben?
„Im Gewissen.“


621a. Da der Mensch das Gesetz Gottes in seinem Gewissen hat, welche Notwendigkeit bestand dann, es ihm zu offenbaren?
„Er hatte es eben vergessen und verkannt: Gott wollte, dass es ihm ins Gedächtnis zurückgerufen würde.“




622. Hat Gott gewissen Menschen die Mission gegeben, sein Gesetz zu offenbaren? „Ja, gewiss: Zu allen Zeiten haben Menschen diese Mission empfangen. Es sind höhere Geister, die sich inkarnierten, um die Menschheit vorwärts zu bringen.“



623. Haben sich die, welche es unternahmen, die Menschen im Gesetz Gottes zu unterrichten, nicht öfter geirrt und die Menschen durch falsche Prinzipien irregeführt?
„Diejenigen, welche nicht von Gott inspiriert waren und welche sich aus Ehrgeiz eine Mission beilegten die ihnen nicht gebührte, konnten sie gewiss irreführen. Da es jedoch schließlich Männer von Genie waren, so finden sich doch mitten unter den, von ihnen gelehrten Irrtümern große Wahrheiten.“



624. Was ist der Charakter des wahren Propheten?
„Der wahre Prophet ist ein rechtschaffener Mensch, der von Gott inspiriert ist. Man erkennt ihn an seinen Worten und Werken. Gott kann sich nicht des Mundes des Lügners bedienen, um die Wahrheit zu lehren.“


625. Welches ist das vollkommenste Vorbild, das Gott dem Menschen gegeben hat, um ihm als geistiger Führer und Modell zu dienen?
„Schaut auf Jesus.“


Jesus ist für den Menschen das Urbild oder Vorbild der moralischen Vollkommenheit, auf welche die Menschheit auf Erden Anspruch hat. Gott gibt ihn uns als das vollkommenste Musterbild und seine Lehre ist der reinste Ausdruck seines Gesetzes, weil er vom göttlichen Geist beseelt und das reinste Wesen war, das auf der Erde erschienen ist.


Wenn einige von denen, welche den Menschen im Gesetz Gottes zu unterrichten vorgaben, ihn einige Male durch falsche Prinzipien irreführten, so kam das daher, dass sie sich selbst zu sehr von irdischen Gefühlen beherrschen ließen und die Gesetze des Seelenlebens mit denen des leiblichen Lebens verwechselten. Mehrere gaben für göttliche Gesetze aus, was nur menschliche Gesetze waren, erlassen, um den Leidenschaften zu dienen und die Menschen zu beherrschen.


626. Wurden die göttlichen und natürlichen Gesetze den Menschen nur durch Jesus offenbart und hatten diese vor ihm dank eines vagen Gefühls eine Kenntnis davon?
„Sagten wir nicht, sie stehen überall geschrieben? Alle Menschen, welche über deren Weisheit nachdachten, konnten sie also begreifen und lehren seit den ältesten Zeiten. Durch ihren, wenn auch oft unvollkommenen Unterricht bereiteten sie den Boden vor zum Empfang des Samens. Da die göttlichen Gesetze im Buch der Natur geschrieben stehen, so konnte sie der Mensch erkennen, sobald er sie suchte. Darum wurden die von ihnen geheiligten Vorschriften zu jeder Zeit von den rechtschaffenen Menschen verkündigt und eben darum finden sich ihre Elemente in der Moral aller Völker, die der Barbarei entwachsen sind, aber freilich unvollständig oder verändert durch Unwissenheit und Aberglauben.“


627. Da Jesus die wahrhaftigen Gesetze Gottes lehrte, worin besteht denn der Nutzen des von den Geistern gegebenen Unterrichts? Haben sie uns etwas Neues hinzuzulehren?
„Jesus Wort war oft in Bilder und Gleichnisse gehüllt, weil er seiner Zeit und seinem Land gemäß sprechen musste. Jetzt muss die Wahrheit für die ganze Welt verständlich werden. Freilich muss man jene Gesetze erklären und entwickeln, da es so wenige Leute gibt, die sie verstehen und noch weniger, die sie befolgen. Unsere Mission ist, Augen und Ohren aufzutun, um die Hochmütigen zu beschämen und die Heuchler zu entlarven, diejenigen, welche sich in das Äußere der Tugend und der Religion kleiden, um ihre Schande zu verbergen. Die Lehre der Geister muss klar und unzweideutig sein, auf dass niemand seine Unwissenheit vorschiebt und jeder sie mit seiner Vernunft beurteilen und schätzen könne. Wir sind berufen die Herrschaft des Guten vorzubereiten, die Jesus verkündigte. Darum soll nicht jeder Gottes Gesetz nach dem Gutdünken seiner Leidenschaften auslegen, noch den Sinn eines Gesetzes fälschen, das ganz Liebe und Nächstenliebe ist.“



628. Warum wurde die Wahrheit nicht immer jedermann zugänglich gemacht?
„Jedes Ding hat seine Zeit. Die Wahrheit ist gleich dem Licht: Man muss sich erst an sie gewöhnen, sonst blendet sie.


Noch nie geschah es, dass Gott dem Menschen gestattete so vollständige und so lehrreiche Mitteilungen zu empfangen, wie die, welche es ihm heutzutage gegeben ist zu empfangen. Es gab wohl auch in alten Zeiten einzelne Menschen, welche im Besitz einer sogenannten heiligen Wissenschaft waren, die sie vor dem Uneingeweihten geheim hielten. Kraft eurer Kenntnis der Gesetze, die jenen Erscheinungen zu Grunde liegen, begreift ihr, dass jene nur einige zerstreute Wahrheiten empfingen mitten unter zweideutigen und meist sinnbildlichen Andeutungen. Dennoch soll der unterrichtete Mensch kein altes philosophisches System, keine Überlieferung, keine Religion vernachlässigen, denn alles enthält Keime großer Wahrheiten welche, obschon scheinbar einander widersprechend und zerstreut in eine Menge von unbegründeten Zutaten, leicht zu ordnen sind kraft des Schlüssels den euch der Spiritismus zu einer Menge von Dingen gibt, die euch bisher grundlos und unvernünftig erschienen und deren Wirklichkeit euch jetzt unwiderleglich bewiesen wird. Versäumt also nicht, aus diesen Materialien Gegenstände eures Studiums zu schöpfen: sie sind sehr reich daran und können mächtig zu eurer Belehrung beitragen.“




Das Gute und das Böse

629. Wie kann man die Moral definieren?
„Die Moral ist die Regel zu einem guten Verhalten, d.h. die Unterscheidung zwischen gut und böse. Sie gründet sich auf dem Beachten der Gesetze Gottes. Der Mensch benimmt sich recht, wenn er alles im Hinblick auf alles und für das Wohl aller tut, denn dann erfüllt er Gottes Gesetz.“



630. Wie kann man gut und böse unterscheiden?
„Gut ist alles, was dem Gesetz Gottes entspricht und Böse alles, was sich von diesem entfernt. Das Gute tun heißt also nach Gottes Gesetz leben, das Böse tun – dieses Gesetz verletzen.



631. Hat der Mensch in sich selbst die Mittel Gut und Böse zu unterscheiden?
„Ja, wenn er an Gott glaubt und wenn er es wissen will. Gott gab ihm die Intelligenz, um beide voneinander zu unterscheiden.“



632. Kann sich der dem Irrtum unterworfene Mensch nicht in der Schätzung von Gut und Böse irren und meinen er tue das Gute, wenn er das Böse tut?
„Jesus hat es euch gesagt: Seht zu, dass was ihr wolltet, man euch tue oder nicht tue. Hieran hängt alles. Ihr werdet euch nicht irren.“




633. Die Regel vom Guten und Bösen, die man das Gesetz der Gegenseitigkeit oder der Solidarität nennen könnte, kann nicht auf das Betragen des Einzelmenschen gegen sich selbst angewandt werden. Findet er im natürlichen Gesetz die Regel und einen sicheren Führer für sein Verhalten?
„Wenn ihr zu viel esst, so bekommt es euch schlecht. Nun denn, Gott gibt euch das Maß für das, was ihr braucht. Überschreitet ihr es, so werdet ihr bestraft. So ist es mit allem. Das natürliche Gesetz zieht dem Menschen die Grenzen seiner Bedürfnisse. Überschreitet er sie, so wird er durch Leiden gestraft. Achtete der Mensch in allen Dingen auf jene Stimme die ihm zuruft: „Genug!“; so würde er die meisten Übel vermeiden, deren er die Natur anklagt.“



634. Warum liegt das Übel in der Natur der Dinge? Ich spreche vom moralischen Übel. Konnte Gott die Menschheit nicht unter besseren Bedingungen schaffen?
„Wir sagten dir es schon: die Geister wurden einfach und unwissend geschaffen (115.). Gott lässt dem Menschen die Wahl des Weges. Schlägt er den schlechten ein, desto schlimmer für ihn: Seine Pilgerfahrt wird umso länger sein. Gäbe es keine Berge, so begriffe der Mensch nicht, dass man aufwärts und abwärts steigen kann, und gäbe es keine Felsen, so wüsste er nicht, dass es harte Körper gibt. Der Geist muss sich Erfahrung sammeln und dazu gehört, dass er das Gute und das Böse kennt und darum gibt es auch eine Einigung von Geist und Leib.“ (119.)



635. Die verschiedenen sozialen Stellungen begründen neue Bedürfnisse, welche nicht für alle Menschen dieselben sind. So scheint dann auch das natürliche Gesetz nicht für alle Menschen dasselbe vorzuschreiben?

„Diese verschiedenen Stellungen liegen in der Natur und im Wesen des Fortschrittes. Dies tut der Einheit des natürlichen Gesetzes, das sich auf alles bezieht, keinen Abbruch.“


Die Existenzbedingungen des Menschen ändern sich, je nach Zeit und Ort, daraus folgen für ihn verschiedene Bedürfnisse und diesen Bedürfnissen angepasste soziale Stellungen. Da diese Verschiedenheit in der Natur der Dinge liegt, so entspricht sie dem Gesetz Gottes und dieses Gesetz ist auch nicht minder ein einiges seinem Prinzip nach. An der Vernunft ist es dann, die wirklichen Bedürfnisse von den künstlichen oder konventionellen zu unterscheiden.



636. Ist Gut und Böse für alle Menschen dasselbe?
„Das Gesetz Gottes ist für alle dasselbe, aber das Böse hängt hauptsächlich von dem Willen ab, es zu tun. Gut ist immer gut und Böse immer böse, welches auch die Stellung des Menschen sein mag: der Unterschied beruht auf dem Grad der Verantwortlichkeit.“



637. Macht sich der, sich von Menschenfleisch nährende Kannibale schuldig?
„Ich sagte, das Böse hängt vom Willen ab. Nun denn, der Mensch macht sich umso mehr schuldig, je besser er weiß, was er tut.“


Die Umstände geben dem Guten und dem Bösen eine relative Wichtigkeit. Der Mensch begeht oft Fehler, welche, wenn sie auch die Folge seiner gesellschaftlichen Stellung sind, deswegen nicht minder tadelnswert sind. Die Verantwortlichkeit jedoch beruht auf seinen Mitteln Gutes und Böses zu erkennen. So ist der gebildete Mensch, der eine einfache Ungerechtigkeit begeht, in Gottes Augen schuldiger, als der unwissende Wilde, der sich seinen Trieben überlässt.



638. Das Böse scheint zuweilen die Folge der Gewalt der Umstände zu sein. Dahin gehört z.B. die in gewissen Fällen notwendige Vernichtung selbst unseres Nächsten. Kann man dann von einer Verletzung des göttlichen Gesetzes sprechen?

„Böse ist dies nicht minder, obwohl notwendig. Aber diese Notwendigkeit verschwindet in dem Maße, als die Seele sich reinigt, indem sie von einer Existenz zur anderen übergeht, und dann ist der Mensch nur um so schuldiger, wenn er Böses tut, weil er es besser erkennt.“



639. Ist das von uns begangene Unrecht nicht oft die Folge der Stellung, die uns von anderen bereitet worden ist und wer ist dann der schuldigere Teil?
„Das Böse fällt auf den zurück, der es verursachte. So ist der Mensch, der durch die ihm von seinem Nächsten aufgedrungene Lage zum Bösen verleitet wird, weniger schuldig, als die, welche die Ursache davon sind; denn jeder wird die Strafe tragen, sowohl des von ihm begangenen, als des von ihm veranlassten Unrechts.“


640. Ist der, welcher das Böse nicht selbst tut, aber sich das durch einen andern begangene Böse zunutze macht, im selben Maße schuldig?
„Das ist als ob er selbst es täte. Es sich zunutze machen, heißt daran teilnehmen. Vielleicht wäre er vor dem Tun zurückgeschreckt; wenn er es aber, wenn es vollbracht ist, sich zunutze macht, so billigt er es auch und er hätte es selbst getan, wenn er gekonnt oder wenn er es gewagt hätte.“



641. Ist der Wunsch des Bösen ebenso tadelnswert als das Böse selbst?
„Je nachdem. Es ist eine Tugend, freiwillig dem Bösen, dessen Wunsch man in sich verspürt, zu widerstehen, besonders wenn die Möglichkeit vorliegt, diesem Wunsch Genüge zu leisten. Fehlt aber nur die Gelegenheit, so ist man schuldig.“



642. Genügt es, kein Böses zu tun, um Gott zu gefallen und sich seine künftige Stellung zu sichern?
Nein, man muss auch das Gute innerhalb der Grenzen seiner Kräfte tun; denn jeder wird sich für alles Böse, das getan wird, zu verantworten haben, um des von ihm unterlassenen Guten willen.“



643. Gibt es Leute, die, kraft ihrer Lage nicht die Möglichkeit haben, Gutes zu tun?
„Es gibt niemanden, der nicht Gutes tun könnte: der Egoist allein findet dazu keine Gelegenheit. Es genügt mit anderen Menschen in Beziehung zu stehen, um Gutes tun zu können und jeder Tag des Lebens gibt einem jeden Gelegenheit dazu, der nicht vom Egoismus verblendet ist. Denn Gutes tun heißt nicht nur Liebe üben, sondern auch sich nützlich machen nach dem Maße eures Könnens, jedes Mal wenn eure Hilfe nötig werden kann.“



644. Wird nicht das Umfeld gewisser Menschen für sie zur ersten Quelle vieler Laster und Verbrechen?
„Ja, aber auch dies ist eine vom Geist im Stand seiner Freiheit gewählte Prüfung: Er wollte sich der Versuchung aussetzen, um sich das Verdienst des Widerstehens zu erwerben.“



645. Wenn der Mensch einmal gewissermaßen sich im Dunstkreis des Lasters bewegen muss, wird dann nicht das Böse für ihn sozusagen zu einer unwiderstehlichen Versuchung?
„Versuchung ja, unwiderstehlich nein; denn mitten in diesem Dunstkreis des Lasters findest du zuweilen große Tugenden. Das sind Geister, welche die Kraft hatten, zu widerstehen und welche gleichzeitig die Mission hatten, einen wohltätigen Einfluss auf ihresgleichen auszuüben.“



646. Ist das Verdienst des Guten, das man tut, gewissen Bedingungen untergeordnet, mit anderen Worten: Gibt es verschiedene Grade im Verdienst des Guten?
„Das Verdienst des Guten beruht in der Schwierigkeit des – selben. Es ist kein Verdienst das Gute ohne Mühe und Kosten zu tun. Gott lohnt es dem Armen besser, der sein einziges Stück Brot mit seinem Nächsten teilt, als dem Reichen der von seinem Überfluss abgibt. Jesus hat es gesagt bei Gelegenheit des Scherfleins der Witwe.




Einteilung des natürlichen Gesetzes

647. Ist das ganze Gesetz Gottes in der Lehre Jesus von der Nächstenliebe enthalten?
„Gewiss umschließt dieser Grundsatz alle Pflichten der Menschen gegeneinander. Aber man muss ihnen dessen Anwendung zeigen, sonst werden sie ihn vernachlässigen, wie sie ihn heute vernachlässigen. Übrigens umfasst das natürliche Gesetz alle Umstände des Lebens und jener Grundsatz ist davon nur ein Teil. Die Menschen bedürfen bestimmter Regeln, allgemeine und zu unbestimmte Vorschriften lassen der Auslegung zuviele Wege offen.“



648. Was haltet ihr von der Einteilung des natürlichen Gesetzes in zehn Teile, welche die Gesetze über die Anbetung, die Arbeit, die Fortpflanzung, die Erhaltung, die Zerstörung, die Gesellschaft, den Fortschritt, die Gleichheit, die Freiheit, endlich das Gesetz über die Gerechtigkeit, die Liebe und Nächstenliebe enthalten?
„Diese Einteilung ist diejenige des Moses und vermag alle Lebensverhältnisse zu umfassen, was von Belang ist. Du kannst ihr daher folgen, ohne dass sie deswegen etwas Absolutes enthielte, so wenig als alle anderen Einteilungssysteme, die stets von dem Gesichtspunkt bedingt sind, von dem aus man eine Sache betrachtet. Das letzte Gesetz ist das Wichtigste, denn nach ihm kann der Mensch am besten im geistigen Leben fortschreiten und es fasst alle anderen in sich zusammen.“





KAPITEL II – I. Das Gesetz der Anbetung.



Zweck der Anbetung

649. Worin besteht die Anbetung?
„Sie ist die Erhebung der Gedanken zu Gott. Durch die Anbetung bringt man ihm die Seele näher.“


650. Ist die Anbetung das Ergebnis eines angeborenen Gefühls oder das Erzeugnis eines Unterrichts?
„Angeborenes Gefühl, wie das der Gottheit. Das Bewusstsein seiner Schwäche führt den Menschen dahin, sich vor dem zu beugen, der ihn beschützen kann.“


651. Hat es Völker gegeben, die des Gefühls der Anbetung ganz entbehrt hätten?
„Nein, denn es gab niemals atheistische Völker. Alle erkennen, dass es über ihnen ein höchstes Wesen gibt.“


652. Kann man annehmen, dass die Anbetung ihre Quelle in dem natürlichen Gesetz hat?
„Sie liegt im natürlichen Gesetz, denn sie ist das Ergebnis eines dem Menschen angeborenen Gefühls. Deshalb findet man sie bei allen Völkern, wenn auch in verschiedenen Formen.“




Äußerliche Anbetung

653. Bedarf die Anbetung äußerlicher Manifestationen?
„Die wahre Anbetung liegt im Herzen. Bei all eurem Tun denkt stets, dass ein Herr euch sieht.“


653a. Ist die äußerliche Anbetung von Nutzen?
„Ja, wenn sie nicht ein leerer Schein ist. Es ist immer nützlich, ein gutes Beispiel zu geben. Wer dies aber nur aus Heuchelei und Eigenliebe tut und dessen Verhalten seine scheinbare Frömmigkeit Lügen straft, gibt eher ein schlechtes als ein gutes Beispiel und stiftet mehr Übel, als er denkt.“

654. Gibt Gott einer bestimmten Anbetungsweise den Vorzug?
„Gott liebt diejenigen, welche ihn vom Grund ihres Herzens mit Aufrichtigkeit anbeten, indem sie das Gute tun und das Böse lassen. Mehr als jene, die glauben ihn mit Zeremonien zu preisen, die sie für ihresgleichen nicht besser machen. Alle Menschen sind Brüder und Gottes Kinder. Zu sich ruft er alle, die seine Gesetze befolgen, was auch die Form sei, in der sie sie ausdrücken. Wer nur die äußerlichen Gebärden der Frömmigkeit hat, ist ein Heuchler, wer nur eine angenommene Anbetung verrichtet, die seinem Verhalten widerspricht, gibt ein schlechtes Beispiel.


Wer da bekennt Christus anzubeten und hochmütig, neidisch und eifersüchtig ist, wer hart und unversöhnlich ge-gen seinen Nächsten ist oder ehrgeizig sich um die Güter dieser Welt bewirbt, von dem sage ich euch: seine Religion ist auf seinen Lippen und nicht in seinem Herzen. Gott, der alles sieht, wird sprechen: dieser da, der die Wahrheit kennt, ist hundertmal schuldiger des Bösen das er tut, als der unwissende Wilde der Wüste, und am Tag des Gerichts wird er demnach beurteilt werden. Wenn ein Blinder euch im Vorbeigehen umwirft, so entschuldigt ihr ihn; ist es aber ein Sehender, so beklagt ihr euch und ihr habt Recht.


Fragt also nicht, ob eine Form der Anbetung besser sei als die andere, denn das hieße fragen, ob es Gott wohlgefälliger sei, in dieser oder in einer anderen Sprache angebetet zu werden. Noch einmal sage ich euch: die Lobgesänge gelangen zu ihm nur durch die Türe des Herzens.“



655. Verdient es Tadel, eine Religion auszuüben, an die man im Grunde des Herzens nicht glaubt, wenn man es nur tut aus menschlichem Respekt und um Andersdenkende nicht zu ärgern?
„Auf die Absicht kommt es hier, wie in vielen anderen Dingen an. Wer nur den Glauben anderer respektieren will, tut nichts Unrechtes. Er handelt besser als der, welcher jenen ins Lächerliche zöge, denn er würde sonst der Liebe ermangeln. Wer aber nur aus Interesse und Ehrgeiz handelt, ist in Gottes und der Menschen Augen verächtlich. Gott können nicht wohlgefallen alle diejenigen, welche Demut vor ihm heucheln, um sich die Billigung der Menschen zu erwerben.“


656. Ist die gemeinsame Anbetung der individuellen vorzuziehen?
„In Gemeinschaft der Gedanken und Gefühle versammelte Menschen haben mehr Macht, die guten Geister an sich zu ziehen. Ebenso verhält es sich, wenn sie sich zur Anbetung Gottes versammeln. Glaubt aber deswegen nicht, die Anbetung des Einzelnen sei weniger gut, denn jeder kann Gott anbeten, indem er an ihn denkt.“




Beschauliches Leben

657. Haben die Menschen in Gottes Augen ein Verdienst, welche sich einem beschaulichen Leben widmen, nichts Böses tun und nur an ihn denken?
„Nein, denn wenn sie nichts Böses tun, so tun sie auch nichts Gutes und sind unnütze Menschen; außerdem ist nichts Gutes zu tun auch schon ein Übel. Gott will, dass man an ihn denkt, aber er will nicht, dass man nur an ihn denkt, da er ja dem Menschen Pflichten auf Erden zu erfüllen gab. Wer sich in Andacht und Beschaulichkeit aufzehrt, tut vor Gott nichts Verdienstliches, weil sein Leben ein rein persönliches bleibt und für die Menschheit keinen Nutzen bringt. Gott wird von ihm Rechenschaft verlangen über das Gute, das er nicht tat.“ (640.).





Das Gebet

658. Ist das Gebet Gott wohlgefällig?
„Das Gebet ist Gott stets wohlgefällig, wenn es aus dem Herzen kommt, denn der Vorsatz ist für ihn alles und das herzliche eigene Gebet ist dem vorzuziehen, das du nur liest, wie schön dieses auch sein mag, wenn du es mehr mit den Lippen als mit den Gedanken liest. Das Gebet ist Gott wohlgefällig, wenn es mit Glauben, Inbrunst, Aufrichtigkeit gesprochen wird; glaube aber nicht, dass er vom Gebet des Hochmütigen, Eitlen und Eigensüchtigen gerührt werde, es geschehe denn aus aufrichtiger Reue und wahrhaftiger Demut.“

659. Was ist im allgemeinen das Wesen des Gebetes?
„Das Gebet ist eine Handlung der Anbetung. Zu Gott beten heißt, an ihn denken, heißt sich ihm nahen, heißt sich mit ihm in Verbindung setzen. Im Gebet kann man drei Dinge tun: Loben, bitten, danken.“



660. Macht das Gebet den Menschen besser?
,,Ja, denn wer mit Inbrunst und Vertrauen betet, ist stärker gegenüber den Versuchungen des Bösen und Gott sendet ihm gute Geister zur Unterstützung. Es ist eine Hilfe, die nie verweigert wird, wenn sie aufrichtig verlangt wird.“


660a. Wie kommt es, dass gewisse Personen, welche viel beten, dennoch einen schlechten Charakter haben, eifersüchtig, neidisch, mürrisch sind, dass sie kein Wohlwollen, und keine Nachsicht kennen, ja dass sie oft geradezu lasterhaft sind?
„Es kommt nicht auf das viele Beten an, sondern darauf, dass man recht betet. Die Leute meinen, dass das ganze Verdienst in der Länge des Gebetes liege und schließen ihre Augen über ihre eigenen Fehler. Das Gebet ist für sie eine Beschäftigung, ein Zeitvertreib; aber nicht eine Selbstprüfung. Nicht die Arznei ist unwirksam, sondern die Art ihrer Anwendung.“


661. Kann man Gott auf nutzbringende Weise bitten, uns unsere Schulden zu vergeben?
„Gott weiß Gut und Böse zu unterscheiden: das Gebet verbirgt die Fehler nicht. Wer Gott um Verzeihung seiner Fehler bittet, erhält sie nur, wenn er sein Verhalten ändert. Gute Handlungen sind das beste Gebet, denn Taten sind mehr wert als Worte.“



662. Kann man auf nutzbringende Weise für andere beten?
„Der Geist des Betenden wirkt durch seinen Willen Gutes zu tun. Durch das Gebet zieht er die guten Geister an sich, welche sich dem Guten, das er tun will, anschließen.“


Wir besitzen in uns dank unseres Denkens und Willens eine Kraft unseres Wirkens, die sich weit über die Grenzen unserer leiblichen Sphäre ausdehnt. Das Gebet für einen Anderen ist die Betätigung eines solchen Willens. Wenn es glühend und aufrichtig ist, so kann es zu seiner Hilfe die guten Geister herbeirufen, um ihm gute Gedanken einzugeben und ihm die Kraft des Leibes und der Seele zu verleihen, deren er bedarf. Aber auch hier ist das Gebet, das aus dem Herzen kommt, alles; das Geplapper der Lippen nichts.



663. Können unsere Gebete für uns selbst das Wesen unserer Prüfungen ändern und ihnen eine andere Wendung geben?
„Eure Prüfungen sind in Gottes Hand und es gibt solche, die bis auf die Hefe geleert werden müssen, dann aber trägt Gott stets der Ergebung Rechnung. Das Gebet ruft die guten Geister an eure Seite und diese geben euch Kraft, jene mutig zu ertragen und dann erscheinen sie euch weniger hart. Wir sagten es schon: das Gebet ist nie unnütz, wenn es echt ist, denn dann gibt es Stärke und das ist schon ein großer Erfolg. Hilf dir selbst, so wird dir Gott helfen – du weißt das ja. Übrigens kann Gott die Gesetze der Natur nicht für einen jeden ändern, denn was für eure kleinliche Auffassung und für euer kurzes Leben ein großes Übel ist, das ist oft ein großes Gut in der allgemeinen Ordnung des Universums. Und dann, wieviele Übel gibt es nicht, deren Urheber der Mensch selbst ist durch seine Unvorsichtigkeit oder seine Fehler! Er wird gestraft mit dem, was er gesündigt hat. Dennoch werden billige Bitten öfter erhört, als ihr denkt. Ihr meint, Gott habe euch nicht erhört, weil er kein Wunder für euch tat, während er euch mit so natürlichen Dingen beispringt, dass es euch als Zufall oder die Wirkung der Gewalt der Dinge erscheint. Oft auch und zwar am meisten erweckt er in euch den nötigen Gedanken, dass ihr euch selbst aus der Verlegenheit zieht.“



664. Ist es nützlich, für die Toten und die leidenden Geister zu beten und wie können in diesem Fall unsere Gebete ihnen Erleichterung verschaffen und ihre Leiden abkürzen? Haben sie die Macht, die Gerechtigkeit Gottes zu beugen?
„Das Gebet kann nicht die Wirkung haben, Gottes Absichten zu ändern, aber die Seele, für die man betet, fühlt davon Erleichterung, da es ein Beweis des Interesses ist, das man für sie hat und weil der Unglückliche stets erleichtert wird, wenn er liebende Seelen findet, die mit seinen Schmerzen Mitleid fühlen. Andererseits erweckt man in ihm durch das Gebet Reue und den Antrieb das Nötige zu tun, um glücklich zu werden. In diesem Sinn kann man allerdings sein Leiden abkürzen, wenn auch er durch seinen guten Willen das Seinige tut. Dieser, durch das Gebet erweckte Wunsch sich zu bessern, ruft bessere Geister an die Seite des Leidenden, welche ihn erleuchten, trösten und mit Hoffnung beleben. Jesus betete für die verlorenen Schafe: Er zeigt euch dadurch, dass ihr strafbar würdet, wenn ihr es nicht auch tätet für die, welche es am meisten bedürfen.“



665. Was ist von der Ansicht zu halten, die das Gebet für die Toten verwirft, weil es im Evangelium nicht geboten sei?
„Christus sagte zu den Menschen: Liebet einander. Dieses Gebot schließt das andere ein, alle möglichen Mittel anzuwenden, ihnen Liebe zu bezeugen, ohne deswegen in irgendwelche Einzelheiten über die Art und Weise diesen Zweck zu erreichen, einzutreten. Wenn es wahr ist, dass nichts den Schöpfer davon abbringen kann, Gerechtigkeit, deren Urbild er ist, allem, was der Geist tut, angedeihen zu lassen, so ist es nicht minder wahr, dass das Gebet, das ihr an Gott für den richtet, der euch Liebe einflößt, für diesen letzteren ein Beweis des Andenkens ist, der seine Leiden erleichtern und ihm Trost bringen muss. Sobald er die geringste Reue zeigt, aber auch nur dann, wird er unterstützt. Nie aber bleibt ihm unbekannt, wenn eine sympathische Seele sich mit ihm beschäftigte und man lässt ihm den süßen Gedanken, dass deren Fürbitte ihm von Nutzen gewesen sind. Daraus folgt auf seiner Seite notwendig ein Gefühl des Dankes und der Liebe gegen den, der ihm diesen Beweis der Anhänglichkeit oder des Erbarmens gegeben hat. Folglich hat die von Christus dem Menschen empfohlene Liebe unter ihnen nur zugenommen. Sie haben also beide dem Gesetz der Liebe und der Einigung aller Wesen gehorcht, jenem göttlichen Gesetz, das die Einheit, das Ziel und den Endzweck des Geistes herbeiführen soll.“ *



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* Antwort des hl. Ludwig (Geistwesen)






666. Kann man zu den Geistern beten?
„Man kann zu den guten Geistern als den Boten Gottes und den Vollziehern seines Willens beten; aber ihre Macht steht im Verhältnis zu ihrer Erhabenheit und ist stets abhängig von dem Herrn aller Dinge, ohne dessen Zulassung nichts geschieht. Darum sind die an sie gerichteten Gebete nur dann wirksam, wenn sie von Gott genehmigt werden.“




Vielgötterei

667. Warum ist die Vielgötterei einer der ältesten und verbreitetsten Glauben, da er doch falsch ist?
„Der Gedanke eines einzigen Gottes konnte bei den Menschen nur das Ergebnis der Entwicklung seiner Ideen sein. In seiner Unwissenheit war er nicht imstande, ein unstoff liches Wesen und ohne bestimmte Gestalt, das auf den Stoff wirkt, zu fassen und gab ihm deshalb die Eigenschaften der leiblichen Natur, d. h. eine Gestalt und ein Antlitz. Von nun an war ihm alles eine Gottheit, was ihm das Maß des gemeinen Verstandes zu überschreiten schien. Alles was er nicht begriff, musste so das Werk einer übernatürlichen Macht sein und von hier bis zum Glauben an soviele einzelne Mächte, als er Wirkungen sah, war nur noch ein Schritt. Zu allen Zeiten gab es aber aufgeklärte Menschen, welche die Unmöglichkeit einsahen, dass diese Vielheit von Mächten die Welt ohne eine oberste Leitung regieren könne und sich daher zum Gedanken eines einzigen Gottes aufschwangen.“


668. Konnten nicht die spiritistischen Erscheinungen an eine Vielheit von Göttern glauben machen, da sie sich zu allen Zeiten geltend machten und schon in den ersten Weltaltern bekannt waren?
„Ohne Zweifel, denn da die Menschen alles Übermenschliche Gott nannten, so waren die Geister für sie Götter und darum machte man aus einem Menschen, der sich vor allen anderen durch seine Taten, sein Genie oder durch eine vom gemeinen Mann unverstandene Macht auszeichnete, einen Gott und weihte ihm nach seinem Tod einen Kultus.“ (603.)


Das Wort Gott hatte in der Antike einen sehr weiten Sinn: Es war nicht, wie heutzutage, die Personifikation des Herrn der Natur, sondern eine allgemeine Bezeichnung für jedes außerhalb der Bedingungen menschlicher Natur stehende Wesen. Da nun die spiritistischen Kundgebungen ihnen das Dasein unkörperlicher, als Naturmächte wirkender Wesen enthüllten, nannten sie diesel – ben Götter, so wie wir sie Geister nennen. So läuft dies also auf eine einfache Wortfrage hinaus, nur mit dem Unterschied, dass sie in ihrer Unwissenheit – die absichtlich von solchen, die ein Interesse daran hatten, aufrecht erhalten wurde – diesen Wesen sehr kostbare Tempel und Altäre errichteten, während sie für uns einfache Geschöpfe, wie wir selbst sind, mehr oder weniger vollkommen und entkleidet von ihrer irdischen Hülle sind. Studiert man gründlich die verschiedenen Eigenschaften der heidnischen Gottheiten, so wird man in ihnen leicht alle die unserer Geister auf allen Stufen der geistigen Leiter wiedererkennen, sowie auch ihren physischen Zustand auf den höheren Welten, alle Eigenschaften des Perispirits und die Rolle, welche sie in den Angelegenheiten der Erde spielen.


Als das Christentum die Welt mit seinem göttlichen Licht erleuchtete, konnte es etwas, das in der Natur selbst liegt, nicht unterdrücken, aber es führte die Anbetung auf denjenigen zurück, dem sie gebührt. Was die Geister betrifft, so erhielt sich die Erinnerung an sie unter verschiedenen Namen, je nach den Völkern. Auch ihre Kundgebungen, die nie aufgehört haben, wurden verschieden ausgelegt und oft unter der Herrschaft des Geheimnisses ausgebeutet. Während die Religion in denselben wunderbare Erscheinungen erblickte, sahen die Ungläubigen darin nur Betrüger. Heutzutage enthüllt uns dank einem ernsthaften Studium der Spiritismus, nachdem er von den Jahrhunderte alten abergläubischen Zugaben gereinigt worden ist, eines der großartigsten und erhabensten Prinzipien der Natur.





Von den Opfern

669. Die Sitte der Menschenopfer reicht bis ins Altertum zurück. Wie kamen wohl die Menschen auf den Glauben, dass solche Dinge Gott wohlgefällig sein könnten?
„Zunächst weil sie Gott nicht als die Quelle des Guten erkannten. Bei den frühesten Völkern hat der Stoff die Oberhand über den Geist, sie lassen sich hinreißen von den tierischen Trieben. Darum sind sie im allgemeinen grausam, denn der moralische Sinn ist in ihnen noch nicht entwickelt. Sodann mussten jene Menschen natürlich annehmen, dass ein beseeltes Wesen in den Augen Gottes einen viel höheren Wert habe, als ein stofflicher Körper. Das veranlasste sie zunächst, Tiere zu opfern und später auch Menschen, da sie ja, nach ihrem verkehrten Glauben dachten, dass der Wert des Opfers im Verhältnis stehe zur Wichtigkeit des Geopferten. Im stofflichen Leben, wie ihr es meist führt, wählt ihr eure Geschenke immer so, dass sein Wert im Verhältnis steht zu dem Grad von Zuneigung und Achtung, die ihr dem Betreffenden bezeugen wollt. So musste es sich auch mit dem in Beziehung auf Gott unwissenden Menschen verhalten.“


669a. So wären also die Tieropfer den Menschenopfern vorausgegangen?
„Ohne Zweifel.“


669b. Nach dieser Auslegung hätten also die Menschenopfer ihre Quelle nicht in dem Gefühl der Grausamkeit?
„Nein, sondern in einer falschen Vorstellung, Gott wohlgefällig zu sein: Seht den Abraham. In der Folge missbrauchten die Menschen jene falsche Vorstellung, um ihre Feinde, selbst ihre Privatfeinde zu opfern. Übrigens forderte Gott nie ein Opfer, weder Tier – noch Menschenopfer. Er kann unmöglich geehrt werden durch die unnütze Vernichtung seines eigenen Geschöpfs.“



670. Konnten die in frommer Absicht dargebrachten Menschenopfer zuweilen Gott wohlgefällig sein?
„Nein, niemals; aber Gott richtet die Absicht. Wenn die Menschen unwissend waren, so konnten sie eine löbliche Tat zu begehen wähnen, indem sie einen ihresgleichen opferten. In diesem Fall hielt sich Gott nur an die Absicht, nicht an die Tat. Wie sich die Menschen besserten, mussten sie ihren Irrtum einsehen und jene Opfer verdammen, da sie nicht mit dem Denken aufgeklärter Geister zu vereinbaren sind. Ich sage aufgeklärt, weil der Menschengeist damals von dem Schleier des Stoffes verhüllt war. Kraft ihres freien Willens konnten sie einen Blick auf ihren Ursprung und ihr Ende werfen und schon erkannten viele in einem vagen Gefühl das Böse, das sie taten, begingen es aber dessen ungeachtet, um ihre Leidenschaften zu befriedigen.“



671. Was sollen wir von den sogenannten heiligen Kriegen denken? Das Streben der fanatischen Völker, die diejenige, welche ihren Glauben nicht teilen, möglichst ausrotten wollen, um Gott wohlgefällig zu sein, schiene demnach denselben Grund zu haben, wie einst die Menschenopfer?
„Von den bösen Geistern werden sie getrieben und indem sie gegen ihresgleichen Krieg führen, handeln sie gegen den Willen Gottes, der da sagt, man solle seinen Bruder lieben, wie sich selbst. Da alle Religionen oder vielmehr alle Völker denselben Gott anbeten, möge er nun diesen oder jenen Namen haben, warum gegen solche einen Vertilgungskrieg führen, weil deren Religion etwas verschieden ist oder noch nicht die Stufe der fortgeschritteneren Völker erreicht hat? Die Völker sind zu entschuldigen, wenn sie nicht an das Wort desjenigen glauben, der vom Geist Gottes beseelt und von ihm gesandt war, besonders wenn sie ihn nicht selbst sahen und Zeugen seiner Taten waren. Und wie sollen sie an jenes Wort des Friedens glauben, wenn ihr es ihnen mit dem Schwert bringt? Sie sollen aufgeklärt werden und wir sollen ihnen seine Lehre mit Überzeugung mit Sanftmut verkündigen, nicht mit Blut und Gewalt. Die meisten von euch glauben nicht an die Verbindungen, die wir mit gewissen Sterblichen pflegen: wie könnt ihr dann verlangen, dass Fremde euch aufs Wort glauben sollen, wenn euer Tun die von euch gepredigte Lehre verleugnet?“




672. Hatte das Darbringen der Früchte der Erde in Gottes Augen mehr Verdienst als die Tieropfer?
„Ich antwortete euch schon als ich sagte, dass Gott die Absicht richte und dass die Tat selbst wenig Gewicht für ihn habe. Offenbar war es Gott wohlgefälliger, sich die Früchte der Erde als das Blut der Tiere opfern zu sehen. Wie wir es auch schon sagten und es stets wiederholen, das Gebet, das vom Herzen kommt, ist Gott hundertmal wohlgefälliger als alle Gaben, die ihr ihm darbringen könnt. Ich wiederhole, an der Absicht liegt alles, an der Handlung nichts.“



673. Gäbe es nicht ein Mittel, diese Gaben Gott wohlgefälliger zu machen, indem man sie der Unterstützung derjenigen widmete, denen das Notwendige fehlt und wäre in diesem Fall das Opfern von Tieren, zu einem nützlichen Zweck ausgeführt, nicht ein verdienstliches Werk, während es ein Missbrauch wäre, wenn es zu nichts nützte oder nur solchen Leuten Nutzen brächte, die an nichts Mangel leiden? Läge nicht etwas wahrhaft Frommes darin, den Armen die Erstlinge zu widmen, die Gott uns auf Erden schenkt?
„Gott segnet stets die, welche Gutes tun: die Armen und die Betrübten unterstützen ist das beste Mittel, ihn zu ehren. Ich sage deswegen nicht, dass Gott die Zeremonien verdammt, die ihr begeht, wenn ihr zu ihm betet, aber es könnte da viel Geld auf nützlichere Weise angewandt werden. Gott liebt in allem die Einfachheit. Der Mensch, der sich ans Äußere und nicht ans Herz hält, ist ein beschränktes Wesen und nun urteilt selbst, ob Gott sich mehr an die Form als an das Wesen halten wird.“





KAPITEL III – II. Das Gesetz der Arbeit



Notwendigkeit der Arbeit

674. Ist die Notwendigkeit der Arbeit ein Naturgesetz?
„Schon deswegen ist die Arbeit ein Naturgesetz, weil sie eine Notwendigkeit ist, und die Zivilisation nötigt den Menschen deswegen zu größerer Arbeit, weil sie seine Bedürfnisse und Genüsse vermehrt.“


675. Darf man unter Arbeit nur die stofflichen (materiellen, Hand – ) Arbeiten verstehen?
„Nein, der Geist arbeitet so gut wie der Leib. Jede nützliche Beschäftigung ist eine Arbeit.“



676. Warum ist die Arbeit dem Menschen auferlegt?
„Sie ist eine Folge seiner leiblichen Natur. Sie ist eine Sühne und gleichzeitig ein Mittel, seine Intelligenz zu vervollkommnen. Ohne Arbeit verbliebe der Mensch in der Kindheit seiner Intelligenz. Darum verdankt er Nahrung, Sicherheit, Wohlsein nur seiner Arbeit und seiner Tätigkeit. Dem, der leiblich zu schwach ist, gab Gott dafür Intelligenz, aber auch sie ist Arbeit.“



677. Warum versorgt die Natur die Tiere mit allem was sie bedürfen?
„Alles in der Natur arbeitet. Auch die Tiere arbeiten, so wie du; aber ihre Arbeit wie ihre Intelligenz beschränkt sich auf ihre Selbsterhaltung. Darum bringt sie bei denselben nicht den Fortschritt mit sich, während sie beim Menschen den doppelten Zweck der Erhaltung des Leibes und der Entwicklung des Gedankens hat, welcher letztere auch ein Bedürfnis ist und den Menschen über sich selbst erhebt. Wenn ich sage, dass die Arbeit der Tiere auf ihre Selbsterhaltung beschränkt sei, so meine ich damit den Zweck, den sie sich bei ihrer Arbeit vorsetzen. Zugleich aber sind sie, indem sie ihre leiblichen Bedürfnisse befriedigen, auch und ohne es zu wissen, die wirksamen Vermittler der Absichten des Schöpfers und ihre Arbeit trägt deshalb nicht minder zum Endzweck der Natur bei, wenn ihr auch gar oft kein unmittelbares Ergebnis darin entdecken könnt.“



678. Ist der Mensch auf den vollkommeneren Welten derselben Notwendigkeit der Arbeit unterworfen?
„Die Natur der Arbeit steht im Verhältnis zur Natur der Bedürfnisse. Je weniger stofflich diese sind, desto weniger auch die Arbeit. Glaube aber darum nicht, dass der Mensch untätig und unnütz sei: der Müßiggang würde eine Strafe, nicht eine Wohltat sein.“



679. Ist der Mensch, der genug besitzt um sein Dasein zu sichern, vom Gesetz der Arbeit befreit?
„Vielleicht von der leiblichen Arbeit, nicht aber von der Pflicht, sich je nach seinen Hilfsmitteln nützlich zu machen, seine eigene Intelligenz oder die der anderen zu vervollkommnen, was auch eine Arbeit ist. Wenn der Mensch, dem Gott hinreichendes Vermögen gegeben hat, zur Sicherung seines Daseins nicht genötigt ist, sein Brot im Schweiß seines Angesichts zu verdienen, so ist seine Pflicht, seinesgleichen nützlich zu sein um so größer, als ihm das ihm gleichsam vorgestreckte Besitztum mehr Muße gewährt, Gutes zu tun.“



680. Gibt es nicht Menschen, denen es überhaupt unmöglich ist, irgendetwas zu arbeiten und deren Dasein daher ein unnützes ist?
„Gott ist gerecht: er verurteilt nur den, dessen Dasein aus freien Stücken unnütz ist; denn dieser lebt auf Kosten der Arbeit der anderen. Gott will, dass jeder sich nach dem Maß seiner Fähigkeiten nützlich macht.“(643.)



681. Legt das Naturgesetz den Kindern die Pflicht auf, für die Eltern zu arbeiten?
„Gewiss, so gut wie die Eltern für die Kinder arbeiten sollen. Darum schuf Gott in der Kindes – und der Elternliebe ein angeborenes Gefühl, auf dass Kraft dieser gegenseitigen Liebe, die Glieder einer Familie sich gegenseitig zu unterstützen und zu helfen gedrängt fühlen. Eben dies wird nur zu häufig in eurer gegenwärtigen Gesellschaft verkannt.“(205.)




Grenzen der Arbeit. Ruhe.

682. Ist die Ruhe nicht auch ein Naturgesetz, da sie nach der Arbeit ein Bedürfnis ist?
„Ohne Zweifel, die Ruhe dient dazu, die Kräfte des Leibes wieder herzustellen und sie ist auch notwendig, um der Intelligenz etwas mehr Freiheit zu lassen, damit sie sich über den Stoff erheben kann.“




683. Welches sind die Grenzen der Arbeit?
„Die Grenzen der Kräfte: Im Übrigen lässt Gott den Menschen frei.“



684. Was ist von denen zu halten, die ihr Ansehen dazu missbrauchen, ihren Untergebenen ein Übermaß von Arbeit aufzuerlegen?
„Das ist eine der schlechtesten Handlungen. Jeder, der die Macht hat zu befehlen, ist verantwortlich für das Übermaß von Arbeit, das er den Untergebenen auferlegt; denn er übertritt das Gesetz Gottes.“(273.)



685. Hat der Mensch in seinem Alter ein Recht auf Ruhe?
„Ja, er ist nur nach Maßgabe seiner Kräfte verpflichtet.“


685a. Aber welche Hilfsmittel besitzt der Greis, der arbeiten muss, um zu leben und es doch nicht kann?
„Der Starke soll arbeiten für die Schwachen. Hat er keine Familie, so soll die Gesellschaft für dieselbe eintreten: Das ist das Gesetz der Nächstenliebe.“


Es genügt nicht, dem Menschen zu sagen: er müsse arbeiten, es ist auch notwendig, dass der, dessen Dasein von seiner Arbeit abhängt, solche findet, und dies ist nicht immer der Fall. Wenn eine Arbeitseinstellung sich verbreitet, so nimmt sie gleich einer Teuerung die Verhältnisse einer Pest an. Die Nationalökonomie sucht das Mittel dagegen in dem Gleichgewicht zwischen der Erzeugung und dem Verbrauch. Dieses Gleichgewicht, – seine Möglichkeit überhaupt vorausgesetzt – setzt immer von Zeit zu Zeit aus und während dieser Zeiten muss der Arbeiter dennoch gelebt haben. Es gibt ein Moment, das man nicht hinlänglich in Rechnung bringt, und ohne welches die Nationalökonomie eine bloße Theorie bleibt, nämlich die Erziehung: nicht die intellektuelle, sondern die moralische Erziehung; auch nicht bloß die moralische Erziehung durch Bücher, sondern die, welche in der Charakterbildung besteht, welche Gewohnheiten schafft; denn die Erziehung als Resultat ist die Gesamtheit der erworbenen Gewohnheiten. Wenn man die Masse der täglich in den Strom der Bevölkerung hineingeworfenen Individuen bedenkt, welche ohne Grundsätze, ohne Zügel, ihren eigenen Trieben folgend dahinleben, darf man sich dann wundern über die unseligen Folgen? Wenn einmal jene Kunst erkannt, verstanden und geübt sein wird, dann wird der Mensch Gewohnheiten der Ordnung und Voraussicht für sich und die seinen, der Achtung vor dem Achtungswerten mit sich in die Welt nehmen, Gewohnheiten, die ihm gestatten werden, seine schlimmen Tage auf weniger peinliche Weise zuzubringen. Mangel an Ordnung und an Blick in die Zukunft sind zwei Wunden, die eine wohlverstandene Erziehung allein heilen kann. Hier liegt der Ausgangspunkt, die Grundbedingung des Wohlstandes und das Unterpfand der Sicherheit für alle.





KAPITEL IV – III. Das Gesetz der Fortpflanzung



Bevölkerung der Erde

686. Ist die Fortpflanzung der lebendigen Wesen ein Naturgesetz?
„Offenbar, ohne Fortpflanzung ginge die leibliche Welt zugrunde.“


687. Wenn die Bevölkerung sich immer in wachsendem Fortschritt vermehrt, wird da nicht eine Zeit kommen, wo die Erde übervölkert sein wird?
„Nein, dafür sorgt Gott und er hält das Gleichgewicht stets aufrecht. Er tut nichts Unnützes. Der Mensch, der nur einen kleinen Abschnitt aus dem Gesamtgemälde der Natur überblickt, hat kein Urteil über die Harmonie des Ganzen.“




Aufeinanderfolge und Vervollkommnung der Völker

688. Es gibt gegenwärtig menschliche Völker, die offenbar in der Abnahme begriffen sind. Wird eine Zeit kommen, wo sie vom Erdboden verschwunden sind?
„Das ist richtig, aber es haben dann andere ihre Stelle einge – nommen, wie einst andere die eure einnehmen werden.“


689. Sind die jetzigen Menschen eine neue Schöpfung, oder die vervollkommneten Abkömmlinge von ursprünglich vorhandenen Wesen?
„Es sind dieselben Geister, welche wiedergekommen sind, um sich in neuen Leibern zu vervollkommnen, die aber noch weit entfernt sind von der Vollendung. So wird die gegenwärtige menschliche Bevölkerung, die durch ihre Vermehrung die ganze Erde zu erobern und an die Stelle der aussterbenden Völker sich selbst zu setzen strebt, auch ihrerseits ihre Periode des Absterbens und des Verschwindens erleben. Andere vollkommenere Völker werden an ihre Stellen treten, Abkömmlinge der jetzigen Völker, wie die zivilisierten Menschen von heute von den rohen und wilden Wesen der Urzeiten abstammen.“



690. Sind die Körper der jetzigen Völker vom rein physischen Gesichtspunkt aus eine besondere Schöpfung, oder stammen sie auf dem Weg der Fort – pflanzung von den ursprünglichen Leibern ab?
„Der Ursprung der Völker verliert sich im Dunkel der Zeiten. Da sie aber alle der großen menschlichen Familie angehören, welches auch der Urstammvater von jedem gewesen sein mag, so konnten sie sich untereinander verbinden und neue Typen hervorbringen.“



691. Was ist vom physischen Gesichtspunkt aus der unterscheidende und herrschende Charakter der ersten Völker?
„Entwicklung der rohen Kraft auf Unkosten der Intelligenz: Jetzt findet das Gegenteil statt: Der Mensch wirkt mehr durch seine Intelligenz als durch seine Leibesstärke und doch wirkt er hundertmal mehr, weil er die Kräfte der Natur zu benutzen wusste, was die Tiere nicht können.“



692. Ist die Vervollkommnung der Tier – und Pflanzenarten durch die Wissenschaft dem Naturgesetz zuwider? Entspräche es dem letzteren besser, den Dingen ihren natürlichen Lauf zu lassen?
„Man soll alles tun, um zur Vollkommenheit zu gelangen und der Mensch selbst ist ein Werkzeug, dessen sich Gott bedient, um zu seinen Zielen zu gelangen. Da die Vollkommenheit das Ziel ist, dem die Natur zustrebt, so ist eine Begünstigung dieser Vollkommenheit nur eine Förderung ihrer Absichten.“





Hindernisse der Fortpflanzung

693. Stehen die menschlichen Gesetze und Gewohnheiten, die zu ihrem Zweck und zu ihrer Wirkung die Verhinderung der Fortpflanzung haben, im Widerspruch mit den Gesetzen der Natur?
„Alles, was die Natur in ihrem Fortschreiten behindert, widersteht dem allgemeinen Gesetz.“


693a. Es gibt aber dennoch gewisse Gattungen lebender Wesen, sowohl Pflanzen als Tiere, deren unbeschränkte Fortpflanzung anderen Gattungen schädlich wäre und denen der Mensch selbst zum Opfer fallen würde. Begeht er nun etwas Tadelnswertes, wenn er diese Fortpflanzung aufhält?
„Gott gab dem Menschen die Macht über alle lebenden Wesen, die er zum Guten gebrauchen, aber nicht missbrauchen soll. Er darf die Fortpflanzung nach Bedarf regeln, er darf sie aber ohne Not nicht behindern. Die vernünftige Einwirkung des Menschen ist ein von Gott geordnetes Gegengewicht, um in den Kräften der Natur das Gleichmaß herzustellen und auch das unterscheidet ihn von den Tieren, weil er es mit Sachkenntnis tun kann. Aber die Tiere selbst tragen ebenfalls zu diesem Gleichgewicht bei, denn der ihnen verliehene Zerstörungstrieb bewirkt, dass sie gerade in der Sorge für ihre eigene Erhaltung die übermäßige und vielleicht gefährliche Entwicklung der Tier – und Pflanzengattungen aufhalten, von denen sie sich nähren.“

694. Was ist vom Brauch zu halten, die Fortpflanzung in der Absicht sinnlicher Genüsse aufzuhalten?
„Das beweist die Vorherrschaft des Leibes über die Seele und wie tief der Mensch im Stoff steckt.“




Ehe und Zölibat

695. Widerspricht die Ehe, d.h., die bleibende Vereinigung zweier Wesen dem Gesetz der Natur?
„Sie ist ein Fortschritt im Ganzen der Menschheit.“


696. Was für eine Wirkung würde die Abschaffung der Ehe auf die menschliche Gesellschaft ausüben?
„Die Rückkehr zum Leben der Tiere.“ Die freie und zufällige Vereinigung der Geschlechter ist der Zustand der Natur. Die Ehe ist einer der ersten Fortschritte in der menschlichen Gesellschaft, weil sie die wechselseitige brüderliche Verpflichtung einführt und sich bei allen Völkern findet, wenn auch unter mannigfachen Bedingungen. Die Abschaffung der Ehe wäre daher eine Rückkehr zur Kindheit der Menschheit und würde den Menschen sogar tiefer als gewisse Tiere stellen, die ihm das Beispiel bleibender Vereinigung bieten.



697. Liegt die unbedingte Unauflöslichkeit der Ehe im Gesetz der Natur oder nur im menschlichen Gesetz?
„Sie ist ein dem Naturgesetz höchst widersprechendes menschliches Gesetz. Die Menschen können aber ihre Gesetze ändern: nur die Naturgesetze sind unveränderlich.“



698. Ist die freiwillige Enthaltung von der Ehe ein in den Augen Gottes verdienstlicher, vollkommenerer Zustand?
„Nein, und die, welche aus Egoismus so leben, missfallen Gott und betrügen jedermann.“



699. Ist die Ehelosigkeit nicht bei gewissen Personen ein Opfer, das sie dem wirksamen Dienst der Menschheit bringen?
„Das ist etwas ganz anderes. Ich sagte `aus Egoismus´. Jedes persönliche Opfer ist verdienstlich, wenn es um des Guten willen geschieht. Je größer das Opfer, desto größer das Verdienst.“



Gott kann sich nicht widersprechen, noch das, was er getan hat schlecht finden. Er kann also in der Verletzung seines Gesetzes nichts verdienstliches finden. Wenn aber die Ehelosigkeit an und für sich kein verdienstlicher Stand ist, so verhält es sich anders, wenn sie durch den Verzicht auf die Freuden der Familie zu einem zum Nutzen der Menschheit gebrachten Opfer wird. Jedes dem Guten gebrachte persönliche Opfer, wenn es ohne eigennützigen Hintergedanken geschieht, erhebt den Menschen hoch über sein nur sinnliches Dasein.




Polygamie

700. Weist die nahezu gleich große Zahl der Menschen beider Geschlechter auf das Verhältnis hin, nach welchem sie sich miteinander verbinden sollen?
„Ja, denn in der Natur hat alles seinen Zweck.“



701. Welche von beiden, die Poly – oder die Monogamie, entspricht am besten dem Naturgesetz?
„Die Polygamie ist ein menschliches Gesetz, dessen Abschaffung einen gesellschaftlichen Fortschritt bezeichnet. Nach den Absichten Gottes soll die Ehe auf die Zuneigung der sich vereinigenden Wesen begründet werden. Bei der Polygamie gibt es keine wahre Zuneigung, sondern nur Sinnlichkeit.“


Entspräche die Polygamie dem Naturgesetz, so müsste sie allgemein verbreitet sein können, was gegenüber der gleichen Stärke der beiden Geschlechter eine tatsächliche Unmöglichkeit wäre. Die Polygamie muss als ein besonderer Brauch oder ein besonderes Gesetz betrachtet werden, das gewissen Sitten entspricht und welches der gesellschaftliche Fortschritt allmählich verschwinden lässt.





KAPITEL V – IV. Das Gesetz der Erhaltung



Erhaltungstrieb

702. Ist der Erhaltungstrieb ein Naturgesetz?
„Ohne Zweifel. Er ist allen lebenden Wesen eingepflanzt, welches auch die Stufe ihrer Intelligenz sein mag. Bei den einen ist er rein mechanisch, bei anderen vernunftgemäß.“

703. Zu welchem Zweck gab Gott allen lebenden Wesen den Erhaltung – strieb?
„Weil alle zu den Absichten der Vorsehung mitwirken sollen. Darum gab ihnen Gott das Bedürfnis zu leben. Sodann ist das Leben notwendig zur Vervollkommnung der Wesen: Sie fühlen dies instinktartig, ohne sich darüber Rechenschaft zu geben.“





Erhaltungsmittel

704. Hat Gott, so wie er dem Menschen das Bedürfnis zu leben einpflanzte, ihm auch immer die Mittel dazu dargereicht?
„Ja, und wenn er sie nicht findet, so kommt dies nur daher, dass er sie nicht erkennt. Gott konnte dem Menschen nicht das Bedürfnis zu leben geben, ohne ihm auch die Mittel dazu zu geben; darum lässt er die Erde Dinge hervorbringen, die ihren Bewohnern alles Notwendige bieten; denn nur das Notwendige ist nützlich, das Überflüssige ist es nie.“



705. Warum erzeugt die Erde nicht immer so viel, um den Menschen das Nötige liefern zu können?
„Weil der Mensch sie vernachlässigt, der Undankbare! Sie ist doch eine vortreffliche Mutter. Oft auch klagt der Mensch die Natur dessen an, was doch nur die Folge einer Unerfahrenheit oder seines Mangels an Voraussicht ist. Die Erde würde stets das Nötige erzeugen, wenn der Mensch sich damit zu begnügen wüsste. Wenn sie nicht allen Bedürfnissen entspricht, so kommt dies daher, dass der Mensch das, was zum Nötigen gebraucht werden sollte, auf das Überflüssige verwendet. Sieh den Araber der Wüste, er findet stets zu leben, weil er sich keine künstlichen Bedürfnisse schafft. Wenn aber die Hälfte der Erzeugnisse zur Befriedigung von unnützen Einfällen verschleudert wird, darf sich der Mensch dann wundern, am folgenden Tag nichts mehr zu finden und darf er sich beklagen, dass er nichts mehr vor sich sieht, wenn die Zeit der Entbehrung herankommt? Wahrlich ich sage euch, nicht der Natur mangelt es an Voraussicht, nur der Mensch weiß sein Leben nicht zu ordnen.“




706. Dürfen unter den Gütern der Erde nur die Erzeugnisse des Bodens verstanden werden?
„Der Boden ist die erste Quelle, dem alle anderen Hilfsmittel entströmen, denn schließlich sind die letzteren nur Umwandlungen der Bodenerzeugnisse. Daraus ist unter den Gütern der Erde alles zu verstehen, was der Mensch hier auf Erden genießen kann.“



707. Die Existenzmittel gehen gewissen Individuen zuweilen ab, selbst mitten in dem sie umgebenden Überfluss. Wem haben sie dies dann zuzuschreiben?
„Dem Egoismus der Menschen, die nicht immer tun, was sie sollen. Suchet, so werdet ihr finden, diese Worte besagen keineswegs, dass es genügt, auf den Boden zu schauen, um gleich das zu finden, was man wünscht, sondern dass man mit Eifer und Beharrlichkeit und nicht in weichlichem Behagen zu suchen habe, ohne sich durch die Hindernisse entmutigen zu lassen; denn durch diese soll oft nur eure Beständigkeit, Geduld und Festigkeit auf die Probe gestellt werden.“ (534.)


Wenn die Zivilisation die Bedürfnisse vermehrt, so vermehrt sie zugleich die Quellen der Arbeit und die Mittel zum Leben. Allerdings aber bleibt derselben hier noch viel zu tun übrig. Hat sie einst ihre Aufgabe vollendet, so wird keiner mehr sagen können, dass es ihm am Notwendigen fehle, es sei denn durch seinen eigenen Fehler. Für viele ist das das Unglück, dass sie auf einem Weg bleiben wollen, den ihnen die Natur nicht vorzeichnete. Dann lässt sie die zum Gelingen nötige Intelligenz im Stich. Es ist Raum für jeden auf der Erde, aber unter der Bedingung, dass jeder seine eigene und nicht die Stelle der anderen einnehme. Die Natur kann nicht für die Fehler der sozialen Ordnung und die Folgen des Ehrgeizes und der Eigenliebe verantwortlich gemacht werden.


Indessen müsste man blind sein, wenn man den Fortschritt, der bei den vorgerücktesten Völkern gemacht wurde, nicht sehen wollte. Dank der unermüdlichen löblichen Bestrebungen der vereinigten Menschenliebe und Wissenschaft zur Verbesserung der materiellen Lage der Menschen und trotz dem stetigen Zunehmen der Bevölkerung wurde dem Mangel an Produktion, wenigstens größtenteils, gegengesteuert und die schlimmsten Hungerjahre lassen sich nicht mehr mit denjenigen der jüngsten Vergangenheit vergleichen. Die öffentliche Gesundheitspflege, jenes für Kraft und Wohlsein so wesentliche Element, das unseren Vätern noch unbekannt gewesen ist, ist jetzt der Gegenstand sorgfältigster Ergründung. Unglück und Leiden finden ihre Zufluchtsstätten und überall muss sich die Wissenschaft zur Vermehrung des Wohlstandes in Anspruch nehmen lassen. Wollen wir damit etwa sagen, dass man die Vollkommenheit schon erreicht hat? Oh, gewiss nicht, aber was bisher geschehen ist, daraus lässt sich schließen, was künftig geschehen kann, wenn der Mensch Ausdauer und Weisheit genug zeigt, um das Glück in tatsächlichen und ernsten Dingen und nicht in unausführbaren Träumereien sucht, die ihn nur rückwärts statt vorwärts bringen.



708. Gibt es nicht Lagen, wo die Mittel zum Leben keineswegs vom menschlichen Willen abhängen, und wo der Mangel selbst des allernotwendigsten eine Folge der Macht der Umstände ist?
„Das ist eine oft sehr harte Prüfung für den Menschen, von der er aber wusste, dass er sich ihr zu unterziehen haben wird. Dann liegt sein Verdienst in der Ergebung in den Willen Gottes, wenn sein Verstand ihm keinen Weg weist, sich aus der Verlegenheit zu ziehen. Ist ihm der Tod verhängt, so soll er sich ohne Murren ergeben mit dem Gedanken, dass die Stunde der wahren Befreiung gekommen und dass die Verzweiflung des letzten Augenblickes ihn um die Frucht seiner Ergebung bringen kann.“




709. Begingen jene ein Verbrechen, welche in gewissen gefahrvollen Lagen sich darauf angewiesen sahen, ihresgleichen zu opfern, um sich selbst zu nähren? Und wenn es ein Verbrechen war, wird dasselbe durch das Bedürfnis nach Speise, das ihnen der Selbsterhaltungstrieb eingibt, gemildert?

„Ich antwortete schon, indem ich sagte, dass es ein größeres Verdienst sei, alle Prüfungen des Lebens mutig und mit Ergebenheit zu ertragen. Jenes ist Menschenmord und ein Verbrechen gegen die Natur und verdient doppelte Strafe.“



710. Bedürfen die lebenden Wesen auf den höheren organisierten Welten noch der Nahrung?
„Ja, aber ihre Nahrung richtet sich nach ihrer Natur. Diese Nahrung wäre für eure groben Mägen nicht fest und stofflich genug und ebenso wenig könnten sie die eurige verdauen.“




Genuß irdischer Güter

711. Haben alle Menschen ein Recht auf den Genuss der Güter der Erde?
„Dieses Recht folgt aus der Notwendigkeit, leben zu müssen. Gott kann nicht eine Pflicht geboten haben, ohne auch die Mittel zu deren Erfüllung zu bieten.“


712. Zu welchem Zweck verknüpft Gott einen Reiz mit den Genüssen der irdischen Güter?
„Um den Menschen zur Erfüllung seiner Mission anzutreiben und gleichzeitig um ihn durch die Versuchung zu erproben.“


712a. Und was ist der Zweck der Versuchung?
„Die Entwicklung seiner Vernunft, welche ihn vor Aus – schweifungen bewahren soll.“


Wenn der Mensch nur im Hinblick auf den Nutzen zum Gebrauch der irdischen Güter gereizt worden wäre, so hätte seine Gleich – gültigkeit die Harmonie des Universums gefährden können: darum gab ihm Gott den Reiz der Lust bei, der ihn zur Vollführung der Absichten der Vorsehung antreibt. Aber gerade durch diesen Reiz wollte ihn Gott außerdem noch in der Versuchung prüfen, die ihn zum Missbrauch zu verleiten sucht, vor dem ihn seine Vernunft bewahren soll.



713. Haben die Genüsse ihre von der Natur gezogenen Grenzen?
„Ja, damit ihr die Grenze des Notwendigen erkennt. Aber durch eure Ausschweifungen gelangt ihr schließlich zum Überdruss und straft euch damit selbst.“


714. Was ist von dem Menschen zu halten, der in Ausschweifungen aller Art eine Verfeinerung und Steigerung seiner Genüsse sucht?
„Eine armselige Seele, die man beklagen muss und nicht beneiden kann, denn sie ist nicht mehr weit vom Tod!“


714a. Nähert sie sich dem leiblichen oder dem moralischen Tod?
„Beiden.“


Der Mensch, der in Ausschweifungen aller Art eine Verfeinerung und Steigerung des Genusses sucht, stellt sich unter das Tier; denn das Tier hält inne nach der Befriedigung seines Bedürfnisses. Er entlässt die ihm von Gott mitgegebene Führerin Vernunft und je größer seine Ausschweifungen sind, desto mehr Herrschaft räumt er seiner tierischen Natur über seine geistige ein. Krankheiten und Schwachheit, ja der Tod selbst – die Folgen des Missbrauchs – werden ihm zugleich zur Strafe für die Übertretung des Gesetzes Gottes.




Notwediges und Überflüssiges

715. Wie kann der Mensch die Grenze des Notwendigen erkennen?
„Der Weise erkennt sie intuitiv. Viele erkennen sie durch ihre Erfahrung und auf ihre eigenen Kosten.“



716. Hat nicht die Natur durch unsere physische Veranlagung selbst die Grenzen für unsere Bedürfnisse gezogen?
„Ja, aber der Mensch ist unersättlich. Die Natur hat die Grenzen der Bedürfnisse durch die physische Veranlagung gezogen, aber die Laster haben seine Leibesbeschaffenheit gefälscht und verändert und ihm Bedürfnisse geschaffen, die keine tatsächlichen mehr sind.“

717. Was ist von denen zu halten, die die Güter der Erde an sich reißen, um sich Überflüssiges auf Kosten derer zu verschaffen, die am Notwendigen Mangel leiden?
„Sie verkennen Gottes Gesetz und werden die Entbehrungen, die sie verursachten, zu verantworten haben.“


Die Grenze zwischen Notwendigem und Überflüssigem ist keine unverrückbare. Die Zivilisation schuf Notwendigkeiten, welche der wilde Zustand nicht kennt und die Geister, die obige Vorschriften diktierten, behaupten nicht, dass der Zivilisierte leben soll wie der Wilde. Alles ist je nach Verhältnis: das Geschäft der Vernunft ist es, jedem Ding seinen Platz anzuweisen. Die Zivilisation entwickelt den moralischen Sinn und zugleich das Gefühl der Nächstenliebe, das die Menschen antreibt, sich gegenseitig zu unterstützen. Wer auf Kosten der Entbehrungen anderer die Wohltaten der Zivilisation für sich selbst ausbeutet, hat von der Zivilisation nur den Firnis, sowie gewisse Leute von der Religion nur den Schein.





Freiwillige Entsagung. Kasteiung.

718. Verpflichtet das Gesetz der Selbsterhaltung zur Sorge für die Bedürfnisse des Leibes?
„Ja, ohne Kraft und Gesundheit ist keine Arbeit möglich.“


719. Ist es für den Menschen tadelnswert, nach Wohlbehagen zu trachten?

„Das Wohlbehagen ist ein natürlicher Wunsch. Gott verbietet nur den Missbrauch, weil dieser der Selbsterhaltung widerspricht. Er sieht kein Verbrechen in dem Trachten nach Wohlbehagen, wenn dieses auf niemandes Kosten erworben wird und wenn es weder eure moralische noch eure physische Kraft schwächt.“


720. Hat freiwillige Entsagung zum Zweck einer ebenso freiwilligen Sühne in Gottes Augen ein Verdienst?
„Erweist den andern Gutes und ihr werdet euch größeres Verdienst erwerben.“


720a. ‘Gibt es überhaupt eine verdienstliche, freiwillige Entsagung?
„Ja, die Entsagung gegenüber unnützen Genüssen, weil sie den Menschen vom Stoff befreit und seine Seele erhebt. Das Verdienstliche besteht im Widerstand gegen die Versuchung, die zum Übermaß oder zum Genuss unnützer Dinge reizt; das heißt dann, vom eigenen Notwendigen zu nehmen und es denen zu geben, die nicht genug haben. Ist die Entsagung ein leeres Trugbild, so ist sie ein Hohn.“



721. Asketische Kasteiungen sind das ganze Altertum hindurch und bei den verschiedensten Völkern geübt worden. Sind dieselben unter irgend einem Gesichtspunkt verdienstlich?
„Fragt euch selbst, wem sie dienen und ihr werdet die Antwort finden. Dienen sie nur dem, der sie übt und den sie Gutes zu tun hindern, so ist dies Egoismus, welches auch der Vorwand sei, mit dem man sie begründet. Entsagen und für andere arbeiten, das ist die wahre Kasteiung und entspricht der christlichen Nächstenliebe.“



722. Ist die Enthaltung von gewissen Nahrungsmitteln wie sie bei verschiedenen Völkern vorgeschrieben ist, in der Vernunft begründet?

„Alles, wovon sich der Mensch ohne Schaden für seine Gesundheit nähren kann, ist erlaubt. Die Gesetzgeber konnten euch gewisse Nahrungsmittel zu einem nützlichen Zweck verbieten und stellten euch dann solche Gesetze, um ihnen mehr Achtung zu verschaffen, als von Gott kommend dar. “



723. Ist die Fleischnahrung beim Menschen gegen das Naturgesetz?
„Bei eurer leiblichen Beschaffenheit nährt Fleisch das Fleisch, sonst verkümmert der Mensch. Das Gesetz der Erhaltung macht es dem Menschen zur Pflicht, seine Kräfte und seine Gesundheit zu erhalten, um das Gesetz der Arbeit zu erfüllen. Er soll sich also so nähren, wie es seine Leibesbeschaffenheit erfordert.“


724. Ist die Enthaltung von tierischer oder anderer Nahrung verdienstlich als Sühnung?
„Ja, wenn man sich zu Gunsten anderer enthält, Gott kann aber keine Kasteiung billigen, wenn sie nicht eine ernstgemeinte und gemeinnützige ist. Darum sagen wir, dass die, welche sich nur zum Schein enthalten, Heuchler sind.“ (720.)


725. Was ist von den Verstümmelungen des Leibes des Menschen und der Tiere zu halten?
„Wozu eine solche Frage? Fragt euch doch noch einmal, ob eine Sache nützlich sei. Was unnütz ist, kann Gott nicht gefallen und was schädlich ist, missfällt ihm immer; denn wisset, Gott freut sich nur über die Gefühle, welche die Seele zu ihm erheben. Nicht wenn ihr sein Gesetz verletzt, sondern wenn ihr es befolgt, könnt ihr eueren irdischen Stoff allmählich abschütteln.“


726. Wenn uns die Leiden dieser Welt durch die Art, wie wir sie ertragen, erheben, erhebt man sich dann auch durch solche, die man selbst auferlegt?

„Die einzigen uns wirklich erhebenden Leiden sind die natürlichen, weil sie von Gott kommen; die freiwillig übernommenen dienen zu nichts, wenn sie kein Gutes für andere stiften. Glaubst du denn, die, welche ihr Leben durch übermenschliche Strenge und Grausamkeit abkürzen, wie die Bonzen, Fakire und gewisse Fanatiker verschiedener Sekten, kommen auf ihrer Bahn vorwärts? Warum arbeiten sie nicht vielmehr zum Besten von ihresgleichen? Die Armen mögen sie kleiden, die Weinenden trösten, für den Schwachen arbeiten, zur Tröstung der Unglücklichen mögen sie sich Entbehrungen auferlegen, dann wird ihr Leben ein Gott wohlgefälliges sein. Wenn man bei freiwilligem Leiden nur an sich selbst denkt, so ist das Egoismus; leidet man aber für andere, so ist es Nächstenliebe. Das sind Christi Gebote.“




727. Wenn man sich keine freiwilligen Leiden auferlegen soll, da sie von keinem Nutzen für andere sind, darf man sich dann vor solchen bewahren, die man voraussieht oder die uns bedrohen?
„Der Trieb der Selbsterhaltung wurde allen Wesen eingepflanzt gegenüber Gefahren und Leiden. Geißelt euren Geist und nicht euren Leib, tötet eueren Hochmut ab, erstickt euren Egoismus, der euch, einer Schlange gleich, am Herzen nagt und ihr werdet mehr ausrichten zu eurem Vorwärtskommen, als durch Grausamkeiten, die nicht mehr in unser Jahrhundert passen.“





KAPITEL VI – V. Das Gesetz der Zerstörung



Notwendige und mißbräuchliche Zerstörung

728. Ist die Zerstörung ein Naturgesetz?
„Alles muss zu Grunde gehen, damit es nun wieder auflebe und sich neu schaffe; denn was ihr Zerstörung nennt, ist nur eine Umwandlung, welche die Erneuerung und Verwandlung der lebenden Wesen zum Zweck hat.“


728a. So wäre also der Zerstörungstrieb den lebenden Wesen von der Vorsehung eingepflanzt worden?
„Gottes Geschöpfe sind die Werkzeuge, deren er sich zu seinen Zwecken bedient. Um sich zu ernähren, zerstören sich die lebenden Wesen untereinander, und zwar zu dem doppelten Zweck, das Gleichgewicht in der Fortpflanzung, die sonst ihr Maß überschritte, herzustellen und andererseits, die Trümmer der äußerlichen Hülle nutzbar zu machen. Es wird aber stets nur die Hülle zerstört, die nur das Zubehör, nicht aber der wesentliche Teil des denkenden Wesens ist. Der wesentliche Teil ist das intelligente Prinzip: dieses ist unzerstörbar und arbeitet sich in seinen Umwandlungen immer höher empor.“


729. Wenn die Zerstörung zur Wiedergeburt der Wesen notwendig ist, warum sind sie dann von der Natur mit den Mitteln sich zu schützen und zu erhalten ausgestattet?
„Damit die Vernichtung nicht vorzeitig eintrete. Jede zu frühzeitige Zerstörung hindert das intelligente Prinzip an seiner Entwicklung. Darum legte Gott in jedes Wesen den Lebens – und den Fortpflanzungstrieb.“



730. Da uns der Tod in ein besseres Leben führen soll und uns von den Übeln des jetzigen befreit und da er somit eher herbeizuwünschen als zu fürchten ist, warum hat denn der Mensch ein instinktmäßiges Grauen vor demselben, so dass er ihn fürchten muss?
„Wir sagten bereits, dass der Mensch sein Leben zu verlängern suchen soll, um seine Aufgabe zu erfüllen. Darum gab ihm Gott den Erhaltungstrieb, der ihn in seinen Prüfungen aufrecht erhält; sonst würde er sich zu oft der Entmutigung hingeben. Die geheime Stimme, die ihn den Tod meiden lässt, sagt ihm, er könne noch etwas Gutes zu seinem Fortschritt verrichten. Droht ihm eine Gefahr, so ist dies eine Warnung, den Aufschub, den ihm Gott zugesteht, sich zunutze zu machen. Aber, welch Undank! Öfter dankt er es seinem guten Stern, als seinem Schöpfer.“



731. Warum setzte die Natur neben die Mittel zur Erhaltung gleichzeitig die zerstörenden Kräfte?
„Die Arznei neben das Übel. Wir sagten es schon: Es geschieht dies zur Erhaltung des Gleichgewichts und als Gegengewicht.“



732. Ist die Notwendigkeit der Zerstörung auf allen Welten dieselbe?
„Sie steht im Verhältnis zu dem mehr oder weniger stofflichen Zustand der Welten. Sie hört auf bei einem höheren und reineren leiblichen und moralischen Zustand. Auf den fortgeschritteneren Welten als die eurige sind die Bedingungen des Daseins ganz andere.“



733. Wird die Notwendigkeit der Zerstörung bei den Menschen auf der Erde immer existieren?
„Sie vermindert sich beim Menschen in dem Maße, als der Geist über den Stoff Herr wird. Deshalb seht ihr den Graus der Zerstörung sich nach der intellektuellen und moralischen Entwicklung richten.“



734. Besitzt der Mensch in seinem jetzigen Zustand ein unbeschränktes Recht der Zerstörung gegenüber den Tieren?
„Dieses Recht knüpft sich an die Notwendigkeit für seine Nahrung und seine Sicherheit zu sorgen. Der Missbrauch war niemals ein Recht.“



735. Was soll man von einer, die Grenzen des Bedürfnisses und der Sicherheit überschreitenden Zerstörung halten, von der Jagd z. B., wenn sie keinen anderen Zweck hat, als den der nutzlosen Vernichtung?
„Vorherrschaft der Vertiertheit über die geistige Natur. Jede Zerstörung, welche die Grenzen des Bedürfnisses überschreitet, ist eine Verletzung des Gesetzes Gottes. Die Tiere zerstören nur um ihrer Bedürfnisse willen, der Mensch aber mit seinem freien Willen vernichtet ohne Not. Er wird Rechenschaft zu geben haben über den Missbrauch seiner Freiheit, denn hier folgt er seinen schlechten Trieben.“



736. Erwerben sich die Völker, welche ihre Bedenken wegen der Zerstörung der Tiere bis zum Übermaß ausdehnen, ein besonderes Verdienst?
„Es ist dies ein Übermaß eines an sich löblichen Gefühls, das so aber ausartet und dessen Verdienst durch manche andere Missbräuche wieder aufgewogen wird. Es ist bei denselben mehr abergläubische Furcht, als wahre Güte.“




Verwüstende Landplagen

737. In welcher Absicht schlägt Gott die Menschheit mit verwüstenden Landplagen?
„Um sie schneller fortschreiten zu lassen. Sagten wir nicht, dass die Zerstörung notwendig sei zur moralischen Erneuerung der Geister, die in jedem neuen Dasein einen neuen Grad der Vollendung erlangen? Das Ende muss man sehen, um die Resultate zu würdigen. Ihr beurteilt jene nur nach eurem persönlichen Gesichtspunkt und ihr nennt sie Landplagen wegen des Schadens, den sie euch verursachen. Aber diese Umwälzungen sind oft notwendig, um schneller – d.h. oft in wenigen Jahren, wo es sonst viele Jahrhunderte gebraucht hätte – eine bessere Ordnung der Dinge herbeizuführen.“ (744.)


738. Konnte denn Gott nicht andere Mittel als jene zerstörenden Landplagen anwenden, um die Menschheit zum Fortschritt zu führen?
„Ja, und er verwendet sie auch alle Tage, da er einem jeden die Mittel, sich zu vervollkommnen, verlieh, in der Erkenntnis des Guten und Bösen. Der Mensch aber benutzt sie nicht; da muss er dann geschädigt werden für seinen Hochmut, auf dass er seine Schwachheit fühle.“


738a. Aber bei diesen Landplagen unterliegt der Gute wie der Schlechte. Ist denn das gerecht?
„Während seines Lebens führt der Mensch alles auf seinen Leib zurück, nach dem Tod aber denkt er anders und wie wir gesagt haben: Das Leben des Leibes hat nicht viel zu bedeuten, ein Jahrhundert eurer Welt ist gleich einem Blitz in der Ewigkeit. Also sind auch eure Leiden von einigen Monaten oder einigen Tagen, wie ihr das nennt, nichts. Lasst euch das zur Lehre dienen, auch für die Zukunft. Die Geister, sie sind die wirkliche Welt, die vor allem war und alles überdauert.(85.) Sie sind die Kinder Gottes und der Gegenstand all seiner Sorge. Die Leiber sind nur Verkleidungen, in denen die Geister in der Welt erscheinen. Die bei großen Unglücksfällen hinweggerafften Menschen gleichen einem Kriegsheer, das während eines Feldzugs seine Bekleidung abnützt, zerreißt oder verliert. Der Feldherr aber kümmert sich mehr um seine Soldaten, als um ihre Kleider.“


738b. Aber die Opfer dieser Landplagen sind deswegen nicht minder Opfer?
„Wenn man das Leben für das nähme, was es ist und bedachte, wie wenig es bedeutet gegenüber der Unendlichkeit, man legte ihm weniger Gewicht bei. Jene Opfer finden in einem anderen Dasein einen reichlichen Ersatz für ihre Leiden, wenn sie dieselben ohne Murren zu ertragen wissen.“


Mag der Tod durch eine Pest oder durch eine gewöhnliche Ursache herbeigeführt werden, man muss eben doch sterben, wenn das Stündlein zur Abreise geschlagen hat: der einzige Unterschied ist, dass eine größere Zahl gleichzeitig von dannen zieht. Könnten wir uns in Gedanken soweit erheben, dass wir die Menschheit ganz umfassten und überblickten, so erschienen uns jene grossen Verheerungen nur noch als vorübergehende Gewitter in den Geschicken der Welt.



739. Haben die zerstörenden Landplagen in physischer Beziehung einen Nutzen, trotz den Übeln, die sie mit sich führen?
„Ja, sie verändern zuweilen den Zustand einer Gegend. Das Gute, das daraus entsteht, wird aber oft erst von späteren Geschlechtern empfunden.“



740. Sollten die Landplagen nicht auch moralische Prüfungen für den Menschen sein, die ihn der äußersten Not preisgeben?
„Die Landplagen sind Prüfungen, die dem Menschen Gelegenheit bieten, seine Intelligenz zu üben, seine Geduld und seine Ergebung in Gottes Willen zu zeigen und die es ihm möglich machen, seine Selbstlosigkeit, seine Uneigennützigkeit und Nächstenliebe zu entfalten, wenn er nicht in die Banden des Egoismus geschlagen ist.“



741. Ist es dem Menschen verliehen, die Landplagen, die über ihn kommen, zu vermeiden?
„Ja, teilweise, aber nicht so, wie man es gewöhnlich meint. Viele Landplagen sind die Folge von seinem Mangel an Voraussicht. In dem Maße als er sich Kenntnisse und Erfahrung sammelt, vermag er sie zu vermeiden, d.h. ihnen zuvorzukommen, wenn er hinter deren Ursachen zu kommen weiß. Unter den Übeln der Menschheit gibt es aber auch solche allgemeinerer Natur, die in den Absichten der Vorsehung liegen und von denen jedes Individuum mehr oder weniger betroffen wird. Diesen kann der Mensch nur Ergebenheit in den Willen Gottes entgegensetzen. Auch diese Übel werden häufig durch des Menschen Sorglosigkeit verschlimmert.“



Zu den zerstörenden Landplagen, den natürlichen und vom Menschen unabhängigen, sind zunächst die Pest, die Hungersnot, die Überschwemmungen, die Missernten zu rechnen. Hat aber der Mensch nicht schon in der Wissenschaft, den künstlichen Arbeiten, in der Vervollkommnung des Ackerbaues, in der Koppelwirtschaft und der Bewässerung, im Studium der Gesundheitslehre die Mittel gefunden, manch solches Missgeschick abzuwenden und wenigstens zu verringern? Werden nicht gewisse, einst von schrecklichen Plagen heimgesuchte Gegenden jetzt davon verschont? Was wird also der Mensch nicht noch alles für sein leibliches Wohl auszurichten vermögen, wenn er alle Hilfsmittel seiner Intelligenz sich zunutze machen und mit der Sorge für seinen eigenen Schutz die echte Nächstenliebe zu verbinden wissen wird! (707.)




Kriege

742. Was treibt den Menschen zum Krieg?
„Oberherrschaft der tierischen über die geistige Natur und Befriedigung seiner Leidenschaften. Im Zustand der Barbarei kennen die Völker nur das Recht des Stärkeren und darum ist der Krieg für sie ein normaler, regelrechter Zustand. Je mehr der Mensch fortschreitet, desto seltener werden die Kriege, weil der Mensch dann deren Ursachen vermeidet und, wenn sie nicht mehr zu vermeiden sind, die Menschlichkeit damit zu verbinden weiß.“


743. Wird der Krieg einst vom Erdboden verschwinden?
„Ja, wenn die Menschen die Gerechtigkeit erkennen und das Gesetz Gottes betätigen werden: dann sind alle Menschen Brüder.“


744. Was war der Zweck der Vorsehung, da sie den Krieg notwendig machte?
„Freiheit und Fortschritt.“



744a. Wenn aber der Krieg die Wirkung haben soll, dass der Mensch zur Freiheit gelange, wie kommt es denn, dass er oft die Unterjochung zum Zweck und zur Folge hat?
„Vorübergehende Unterjochung, um die Völker zu ermüden, damit sie desto schneller zum Ziel gelangen.“



745. Was ist von dem zu halten, der einen Krieg zu seinem eigenen Vorteil erregt?
„Der ist der wahre Schuldige und er wird sehr vieler Existenzen bedürfen, um alle Totschläge, die er veranlasste, zu sühnen, denn er wird über jeden Menschen, dessen Tod er zur Befriedigung seines Ehrgeizes verursachte, Rechenschaft zu geben haben.“




Mord

746. Ist der Mord ein Verbrechen in den Augen Gottes?
„Ja, ein großes Verbrechen. Denn wer seinesgleichen das Leben nimmt, zerreißt ein Leben der Sühne oder der Mission und hierin liegt das Übel.“


747. Ist die Schuld bei jedem Mord die gleiche?
„Schon oft sagten wir: Gott ist gerecht, er richtet die Absicht mehr als die Tat selbst.“



748. Entschuldigt Gott den Totschlag im Fall der Notwehr?
„Die Notwendigkeit allein kann ihn entschuldigen. Kann man aber sein eigenes Leben bewahren, ohne das des Angreifers zu beeinträchtigen, so soll man es tun.“


749. Ist der Mensch der Tötungen schuldig, die er im Krieg begeht?
„Nein, wenn er durch die Gewalt dazu angehalten wird; hingegen ist er der Grausamkeiten schuldig, die er begeht, und seine Menschlichkeit wird ihm gutgeschrieben werden.“



750. Wer trägt die größere Schuld in den Augen Gottes, der Vatermörder oder der Kindesmörder?
„Beide tragen dieselbe Schuld, denn jedes Verbrechen ist ein Verbrechen.“



751. Woher kommt es, dass bei gewissen, in intellektueller Beziehung schon fortgeschritteneren Völkern der Kindesmord in den Sitten liegt und von der Gesetzgebung geheiligt ist?
„Die intellektuelle Entwicklung bedingt noch nicht die Notwendigkeit des Guten. Der an Intelligenz überlegene Geist kann sehr schlecht sein. Das ist der, welcher viel gelebt hat, ohne sich zu bessern: Er besitzt aber nur das Wissen.“




Grausamkeit

752. Kann man die Grausamkeit aus dem Zerstörungstrieb ableiten?
„Es ist der Zerstörungstrieb in seiner schlimmsten Entartung, denn wenn das Zerstören zuweilen notwendig ist, so ist es doch niemals die Grausamkeit; diese ist stets das Ergebnis einer schlechten Natur.“


753. Woher kommt es, dass die Grausamkeit ein herrschender Charakterzug der ältesten Völker ist?
„Bei den ältesten Völkern führt, wie du weißt, der Stoff die Herrschaft über den Geist. Sie überlassen sich den tierischen Trieben und da sie keine anderen Bedürfnisse kennen als die des leiblichen Lebens, so denken sie nur an ihre eigene Erhaltung, was sie eben gewöhnlich grausam macht. Ferner stehen die noch wenig entwickelten Völker unter dem Einfluss ebenso unvollkommener Geister, die ihnen sympathisch sind, bis fortgeschrittenere Völker kommen und diesen Einfluss zerstören oder wenigstens abschwächen.“



754. Beruht die Grausamkeit nicht auf der Abwesenheit des moralischen Sinnes?
„Sage lieber, der moralische Sinn sei nicht entwickelt, denn er existiert im Prinzip bei jedem Menschen. Dieser moralische Sinn ist es, der aus ihnen später gute und menschliche Wesen macht. Er existiert also auch beim Wilden, aber nur so wie das Prinzip des Wohlgeruchs in dem Keime der Blume liegt, bevor sie sich öffnet.“


Alle Fähigkeiten sind im Menschen zunächst nur gleichsam als Ansätze oder Anlagen vorhanden und erwarten in diesem Zustand die zu ihrer Entwicklung mehr oder weniger günstigen Umstände und Bedingungen. Die übermäßige Entwicklung der einen hindert oder unterdrückt die der anderen. Die Überreizung der stofflichen Triebe erstickt sozusagen den moralischen Sinn, sowie die Entwicklung des letzteren nach und nach die rein tierischen Fähigkeiten abschwächt.


755. Wie kommt es, dass man im Schoß der am weitesten fortgeschrittenen Zivilisation zuweilen Wesen findet, die so grausam sind wie die Wilden?
„So wie man auf einem mit guten Früchten voll beladenen Baum auch faule. Das sind, wenn du willst, Wilde, die von der Zivilisation nur das Kleid tragen, Wölfe, die sich mitten unter die Schafe verirrten. Geister niederen Ranges, die sehr zurückgeblieben sind, können sich unter fortgeschrittenen Menschen inkarnieren in der Hoffnung, dann selbst fortzuschreiten. Wird ihnen aber die Prüfung zu schwer, so gewinnt ihr ursprüngliches Wesen wieder die Oberhand.“


756. Wird die menschliche Gesellschaft einst von solchen bösartigen Wesen gereinigt werden?
„Die Menschheit schreitet fort. Jene, vom Trieb des Bösen beherrschten Menschen, die unter den rechtschaffenen Leuten nicht an ihrem Platz sind, werden allmählich verschwinden, wie das schlechte Korn sich vom guten trennt, wenn es geschwungen wird; sie werden aber unter einer anderen Hülle wiedergeboren werden. Alsdann werden sie, da sie nun mehr Erfahrung besitzen, Gutes und Böses besser erkennen. Du findest hierzu ein Beispiel in den vom Menschen veredelten Pflanzen und Tieren, bei denen er neue Eigenschaften entwickelt. Das ist eben: erst nach mehreren Generationen wird die Vervollkommnung vollständig. Es ist dies ein Abbild der verschiedenen Existenzen des Menschen.“




Zweikampf (Duell)

757. Darf der Zweikampf als eine erlaubte Verteidigung betrachtet werden?
„Nein, er ist ein Mord und eine geschmacklose, der Barbarei würdige Sitte. Bei einer höher fortgeschritteneren und moralischeren Zivilisation wird der Mensch einsehen, dass der Zweikampf etwas ebenso Lächerliches ist wie die Kämpfe, die man einst als Gottesgerichte betrachtete.“


758. Kann der Zweikampf als ein Mord von Seiten desjengen angesehen werden, der, seine eigene Schwäche kennend, soviel als gewiss ist zu unterliegen?
„Das ist ein Selbstmord.“


758a. Und wenn die Aussichten gleich sind, ist es dann ein Mord oder ein Selbstmord?
„Das eine wie das andere.“


Wer einen Zweikampf eingeht, ist in allen Fällen, selbst wenn die Aussichten für beide Teile sich gleichstehen, strafbar, zunächst weil er kaltblütig und mit Überlegung sich an dem Leben seinesgleichen vergreift, sodann weil er in unnötiger Weise und ohne Nutzen für irgend jemanden sein eigenes Leben einsetzt.



759. Was ist der Wert des sogenannten „Ehrenkodex“ beim Duell?
„Hochmut und Eitelkeit: zwei Beulen am Leib der Menschheit.“


759a. Gibt es nicht Fälle, wo die Ehre wirklich in Frage steht und wo eine Weigerung Feigheit wäre?
„Das hängt von den Sitten und Gebräuchen ab. Jedes Land und jedes Jahrhundert haben darin eine verschiedene Anschauungsweise. Wenn einmal die Menschen besser und in der Moral weiter fortgeschritten sein werden, werden sie erkennen, dass der wahre Ehrenkodex über den irdischen Leidenschaften steht und dass man nicht dadurch, dass man einen anderen tötet oder sich selbst töten lässt, ein Unrecht wieder gut macht.“


Es liegt mehr Größe und wahre Ehre darin, sich schuldig zu bekennen, wenn man Unrecht hat, oder zu verzeihen, wenn man im Recht ist, auf alle Fälle aber die Beleidigungen zu verachten, die uns ja doch nicht treffen können.




Todesstrafe

760. Wird die Todesstrafe einst aus der menschlichen Gesetzgebung verschwinden?
„Die Todesstrafe wird unstreitig verschwinden und ihre Abschaffung wird einen Fortschritt der Menschheit bezeichnen. Sind einmal die Menschen mehr aufgeklärt, so wird die Todesstrafe auf Erden nicht mehr bestehen: die Menschen werden es nicht mehr nötig haben, von den Menschen gerichtet zu werden. Ich spreche von einer Zeit, die euch noch ziemlich fern liegt.“


Der gesellschaftliche Fortschritt lässt ohne Zweifel noch viel zu wünschen übrig; man beginge jedoch eine Ungerechtigkeit gegen die moderne Gesellschaft, wenn man nicht in der Beschränkung der Todesstrafe bei den fortgeschrittensten Völkern und in der Gattung der Verbrecher, auf welche sie beschränkt bleibt, einen Fortschritt erblickte. Vergleicht man die Menschenrechte, mit denen die Gerechtigkeit bei diesen gleichen Völkern den Angeklagten zu schützen sucht, die Menschlichkeit, die sie gegen denselben, selbst wenn er als schuldig erkannt ist, übt, mit dem, was in einer noch nicht sehr entfernten Zeit zu geschehen pflegte, so kann man den vorwärtsdringenden Gang der Menschheit nicht verkennen.



761. Mit dem Gesetz der Selbsterhaltung ist dem Menschen das Recht, sein eigenes Leben zu schützen, gegeben. Macht er nun nicht von diesem seinem Recht Gebrauch, wenn er ein gefährliches Glied der Gesellschaft von dieser abschneidet?
„Es gibt noch andere Mittel, sich vor Gefahr zu schützen, als es zu töten. Außerdem soll man dem Verbrecher die Tür der Reue öffnen und nicht sie ihm verschließen.“



762. Wenn die Todesstrafe aus der zivilisierten Gesellschaft verbannt werden kann, war sie dagegen nicht in den weniger fortgeschrittenen Zeiten eine Notwendigkeit?
„Notwendigkeit ist nicht das rechte Wort. Der Mensch hält stets etwas für notwendig, wenn er nichts besseres findet; aber je mehr er fortschreitet und sich aufklärt, desto besser erkennt er, was gerecht und was ungerecht ist und verwirft dann die, in den Zeiten der Unwissenheit im Namen des Rechts begangenen Ausschreitungen.“




763. Bedeutet die Beschränkung der Zahl der mit Todesstrafe belegten Verbrechen einen Fortschritt in der Zivilisation?
„Kannst du zweifeln? Sträubt sich dein Geist nicht bei den Berichten über die Menschenschlächtereien, die einst im Namen der Gerechtigkeit, ja oft zur größeren Ehre Gottes vorgenommen wurden, bei den Martern, denen man den Verurteilten und selbst schon den Angeklagten unterzog, um ihm durch ein Übermaß von Schmerzen das Geständnis eines Verbrechens zu entreißen, das er oft nicht einmal begangen hatte? Wohlan, hättest du zu jener Zeit gelebt, du hättest das alles ganz natürlich gefunden und du selbst hättest als Richter genau dasselbe getan. So erscheint das, was zu einer Zeit als gerecht erschien, zu einer anderen Zeit als barbarisch. Die göttlichen Gesetze allein sind ewig, die menschlichen ändern sich mit dem Fortschritt und sie werden fortfahren sich zu ändern, bis sie sich mit den göttlichen decken.“



764. Jesus hat gesagt: „Wer mit dem Schwert getötet hat, wird mit dem Schwert umkommen.“ Enthalten diese Worte nicht eine Bestätigung des Rechts der Wiedervergeltung und ist der über den Mörder verhängte Tod nicht eine Anwendung dieses Rechts?
„Habt Acht, ihr missversteht diese Worte wie so manche andere. Das Wiedervergeltungsrecht ist die Gerechtigkeit Gottes: Er ist es, der davon Gebrauch macht. Ihr alle erleidet in jedem Augenblick diese Strafe, denn ihr werdet mit dem gestraft, worin ihr gesündigt habt, sei es in diesem oder in einem anderen Leben. Wer seinesgleichen leiden ließ, wird in eine Lage versetzt werden, wo er selbst das zu leiden haben wird, was er anderen hatte leiden lassen. Das ist der Sinn jener Worte Jesu. Aber hat er euch nicht auch gesagt: „Vergebet euren Feinden“ und hat er euch nicht gelehrt, Gott zu bitten: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“, d.h. in dem Maße als ihr werdet vergeben haben. Versteht das wohl.“



765. Was ist von der im Namen Gottes ausgesprochenen Todesstrafe zu halten?
„Das heißt, sich in der Gerechtigkeit an Gottes Stelle setzen. Wer so handelt, beweist, wie weit er noch von der Erkenntnis Gottes entfernt ist und dass er noch vieles zu sühnen hat. Die Todesstrafe ist ein Verbrechen, wenn sie im Namen Gottes verhängt wird und die, welche sie aussprechen, sind derselben als ebenso vieler Morde schuldig.“





KAPITEL VII – VI. Das Gesetz der Gesellschaft



Notwendigkeit des gesellschaftlichen Lebens

766. Liegt das gesellige Leben in der Natur?
„Gewiss, Gott schuf den Menschen zu einem geselligen Wesen. Gott gab dem Menschen nicht unnötigerweise die Sprache und alle anderen zum geselligen Leben notwendigen Eigenschaften.“




767. Ist die unbedingte Einsiedelei dem Naturgesetz zuwider?
„Ja, denn die Menschen suchen die Gesellschaft aus Instinkt und sie sollen alle zum Fortschritt durch gegenseitige Unterstützung beitragen.“


768. Folgt der Mensch, wenn er Gesellschaft aufsucht, nur einem persönlichen Gefühl oder liegt in diesem Gefühl ein allgemeinerer Zweck der Vorsehung?
„Der Mensch soll fortschreiten: Allein kann er das nicht, weil der einzelne nicht alle Eigenschaften dazu hat. Er bedarf der Berührung mit anderen Menschen. In der Vereinsamung vertiert und verkümmert er.“


Kein Mensch besitzt alle Fähigkeiten vollständig. Durch gesellschaftliche Vereinigung ergänzen sich die einen durch die anderen, um sich gegenseitig ihr Wohl zu sichern und um fortzuschreiten. Da so die einen der anderen bedürfen, sind sie dazu geschaffen in Gesellschaft und nicht in der Einsiedelei zu leben.




Leben in der Isolation. Schweigegelübde.

769. Man begreift, dass das gesellige Leben, allgemein gesprochen, in der Natur des Menschen liegt, da aber auch jede Neigung in der Natur liegt, warum sollte denn der Neigung an unbedingter Isolation zu verurteilen sein, wenn der Mensch in derselben seine Befriedigung findet?
„Die Befriedigung des Egoisten. Es gibt auch Leute, die im Rausch ihre Befriedigung finden. Billigst du sie etwa? Ein Leben kann Gott nicht wohlgefällig sein, durch das man sich dazu verurteilt, niemandem nützlich zu sein.“



770. Was ist von den Menschen zu halten, die, um die verderbliche Berührung mit der Welt zu meiden, in unbedingter Abgeschlossenheit leben?
Zweifacher Egoismus.“


770a. Wenn aber diese Zurückgezogenheit eine Sühne zum Zweck hat, indem man sich eine mühsame Entbehrung auferlegt, ist sie dann nicht verdienstlich?
„Mehr Gutes tun, als man Böses getan hat, das ist die beste Sühne. Indem er ein Übel vermeidet, verfällt er in ein anderes, weil er das Gesetz der Liebe und Barmherzigkeit vergisst.“



771. Was ist von denen zu halten, welche der Welt entfliehen, um sich der Pflege der Unglücklichen zu widmen?
„Diese erhöhen sich, indem sie sich erniedrigen. Sie haben das doppelte Verdienst, sich über die sinnlichen Genüsse zu erheben und Gutes zu tun, indem sie das Gesetz der Arbeit erfüllen.“


771a. Und die, welche in der Abgeschiedenheit die Ruhe suchen, die ihnen gewisse Arbeiten zum Bedürfnis machen?
„Das ist nicht die unbedingte Zurückgezogenheit des Egoisten: sie schließen sich nicht von der Gesellschaft aus, da sie für dieselbe arbeiten.“



772. Was ist von dem Gelübde des Stillschweigens zu halten, das sich seit dem höchsten Altertum gewisse Sekten auferlegen?
„Fragt euch lieber selbst, ob die Sprache in der Natur liege und warum sie Gott verliehen hat. Gott verdammt den Missbrauch und nicht den Gebrauch der von ihm verliehenen Fähigkeiten. Demnach ist das Stillschweigen von Nutzen; denn in demselben sammelst du dich, dein Geist wird freier und vermag dann mit uns in Verbindung zu treten. Ein Gelübde des Schweigens aber ist eine Albernheit. Ohne Zweifel haben die, welche diese freiwilligen Entbehrungen als tugendhafte Handlungen ansehen, einen guten Zweck dabei; aber sie sind im Irrtum, weil sie die wahren Gesetze Gottes nicht hinreichend kennen.“


Das Gelübde unbedingten Stillschweigens sowie das der Einsamkeit beraubt den Menschen der gesellschaftlichen Beziehungen, welche ihm Gelegenheit bieten können Gutes zu tun und das Gesetz des Fortschrittes zu erfüllen.




Familienbande

773. Warum erkennen sich bei den Tieren Eltern und Junge nicht mehr wieder, wenn die letzteren keiner Pflege mehr bedürfen?
„Die Tiere leben nur ein stoffliches, kein moralisches Leben. Die Zärtlichkeit der Mutter für ihre Jungen hat zum Prinzip den Trieb zur Erhaltung der Wesen, denen sie das Leben gab. Wenn diese Wesen sich selbst genügen, so ist der Mutter Aufgabe erfüllt und die Natur verlangt nichts weiter von ihr. Deshalb kümmert sie sich nicht mehr um sie und beschäftigt sich mit den neuen Ankömmlingen.



774. Es gibt Leute, welche daraus, dass die Jungen von ihren tierischen Eltern verlassen werden, den Schluss ziehen, beim Menschen seien die Bande der Familie nur das Ergebnis der gesellschaftlichen Sitten und nicht ein Naturgesetz; was sollen wir davon halten?
„Der Mensch hat eine andere Bestimmung als die Tiere. Warum ihn also stets diesen zugesellen wollen? Bei ihm gibt es noch etwas anderes, als die nur leiblichen Bedürfnisse: Hier herrscht die Notwendigkeit des Fortschritts. Die gesellschaftlichen Bande sind nötig zum Fortschritt und die Bande der Familie knüpfen an die der Gesellschaft: Darum sind die Familienbande ein Naturgesetz. Gott wollte, dass auf diese Weise die Menschen sich wie Brüder lieben lernen sollten.“ (205.)



775. Welches wäre die Folge der Lösung der Familienbande für die Gesellschaft?
„Eine Verschlimmerung des Egoismus.“





KAPITEL VIII – VII. Das Gesetz des Fortschritts



Naturzustand

776. Sind der Naturzustand und das Naturgesetz dasselbe?
„Nein, der Naturzustand ist der Urzustand. Die Zivilisation verträgt sich nicht mit dem Naturzustand, während das Naturgesetz zum Fortschritt der Menschheit beiträgt.


Der Naturzustand ist die Kindheit des Menschengeschlechts und der Ausgangspunkt seiner intellektuellen und moralischen Entwicklung. Da der Mensch vervollkommnungsfähig ist und den Keim seiner Besserung in sich trägt, so ist er nicht dazu bestimmt, fortwährend im Naturzustand zu leben, so wenig er dazu bestimmt ist, fortwährend ein Kind zu bleiben. Der Naturzustand ist vorübergehend, der Mensch tritt aus ihm heraus durch den Fortschritt und die Zivilisation. Das Naturgesetz dagegen regiert die ganze Menschheit und der Mensch wird in dem Maße besser, als er dieses Gesetz besser begreift und danach lebt.

777. Da der Mensch im Naturzustand weniger Bedürfnisse und daher auch nicht alle die Trübsale hat, die er sich in einem fortgeschritteneren Zustand schafft, was soll man dann von der Ansicht derjenigen halten, welche jenen Zustand als den der vollendetsten Glückseligkeit auf Erden betrachten?
„Was willst du?! Es ist das Glück des Primitiven: Es gibt Leute, die kein anderes fassen können. Das heißt man ist glücklich nach Art der Primitiven. Auch die Kinder sind glücklicher als die Erwachsenen.“


778. Kann der Mensch rückwärts schreiten zum Naturzustand?
„Nein, der Mensch soll ohne Unterlass vorwärts schreiten und er kann nicht zum Zustand der Kindheit zurückkehren. Schreitet er fort, so will Gott es so. Glauben, er könne zum Urzustand zurückgehen, hieße das Gesetz des Fortschritts leugnen.“




Wesen des Fortschritts

779. Schöpft der Mensch die Kraft zum Fortschritt aus sich selbst oder ist der letztere nur das Ergebnis einer Belehrung?
„Der Mensch entwickelt sich selbst auf natürliche Weise; aber nicht alle schreiten gleichzeitig und in derselben Weise fort. Dann unterstützen durch den geselligen Verkehr die am weitesten Fortgeschrittenen die anderen.“



780. Folgt der moralische Fortschritt stets auf den intellektuellen?
„Er ist die Folge desselben, aber er folgt auf ihn nicht immer unmittelbar.“ (192. bis 365.)


780a. Wie kann der intellektuelle Fortschritt den moralischen herbeiführen?

„Indem er Gut und Böse erkennen lässt. Dann kann der Mensch wählen. Die Entwicklung des freien Willens folgt auf die Entwicklung der Intelligenz und erhöht die Verantwortung des Tun und Lassens.“


780b. Woher kommt es dann, dass oft die aufgeklärtesten Völker zugleich die verdorbensten sind?
„Der vollendete Fortschritt ist das Ziel, aber Völker wieIndividuen erreichen dasselbe nur Schritt für Schritt. Bis dass der moralische Sinn sich in ihnen entwickelt hat, können sie sich sogar ihrer Intelligenz zum Bösen bedienen. Moral und Intelligenz sind zwei Kräfte, die erst nach langem Miteinander ins Gleichgewicht kommen.“ (365. bis 751.)




781. Ist es dem Menschen verliehen, den Fortschritt aufhalten zu können?
„Nein, aber ihm zuweilen Hindernisse in den Weg zu legen.“


781a. Was soll man von den Menschen denken, die den Fortschritt aufzuhalten und das Menschengeschlecht zum Rückschritt zu bringen suchen?
„Arme Wesen, welche Gott zu Rechenschaft ziehen wird: Sie werden verschlungen werden von dem Strom, den sie aufhalten wollen.“


Da der Fortschritt eine Grundbedingung in der Natur des Mensches ist, so liegt es in keines Menschen Macht, sich demselben entgegenzustemmen. Er ist eine lebendige Kraft, welche schlechte Gesetze aufhalten, aber nicht ersticken können. Wenn diese Gesetze unverträglich mit ihm werden, so bricht er sie samt allen denjenigen, die sie aufrecht zu halten streben. So wird es bleiben bis der Mensch seine Gesetze mit der göttlichen Gerechtigkeit wird in Einklang gesetzt haben, die das Wohl aller will, nicht Gesetze zu Gunsten des Stärkeren, auf Kosten des Schwachen.




782. Gibt es nicht Menschen, die den Fortschritt hindern, im guten Glauben ihn zu fördern, weil sie ihn von ihrem Gesichtspunkt oft da sehen, wo er nicht zu finden ist?
„Ein unter das Rad des Lastwagens gelegtes Steinchen, das ihn nicht am Vorwärtskommen hindert.“



783. Verfolgt die Vervollkommnung des Menschengeschlechts immer einen stetig und langsam fortschreitenden Gang?
„Der regelmäßige und langsame Fortschritt entspringt aus der Macht der Verhältnisse; wenn aber ein Volk nicht schnell genug fortschreitet, so erweckt ihm Gott zur einen oder anderen Zeit eine physische oder moralische Erschütterung, die es umgestaltet.“


Der Mensch kann nicht dauernd in Unwissenheit verharren, weil er an das ihm von der Vorsehung gesetzte Ziel gelangen soll: Er unterrichtet sich durch die Macht der Verhältnisse. Die mora – lischen, wie die sozialen Umwälzungen, dringen allmählich in den allgemeinen Vorstellungskreis ein. Sie keimen Jahrhunderte lang, platzen dann plötzlich und zertrümmern das wurmstichige Gebäude der Vergangenheit, das nicht mehr mit den neuen Bedürfnissen und Bestrebungen in Einklang steht.


Der Mensch bemerkt an diesen Erschütterungen oft nur die Unordnung und Verwirrung, die ihn in seinen materiellen Interessen benachteiligen. Wer aber seine Gedanken über die eigene Person zu erheben weiß, der bewundert die Pläne der Vorsehung, die aus dem Übel das Gute hervorgehen lässt. Sturm und Gewitter sind es, die den Dunstkreis wieder gesund machen, nachdem sie ihn durcheinander geworfen haben.



784. Die Verdorbenheit des Menschen ist sehr groß und scheint er nicht eher rückwärts statt vorwärts zu schreiten, wenigstens in moralischer Beziehung?
„Da irrst du; beobachte scharf das Ganze und du wirst sehen, dass er fortschreitet, weil er besser erkennt was Böse ist und weil er jeden Tag Missbräuche abschafft. Das Übermaß des Übels ist nötig, um die Notwendigkeit des Guten und der Reformen einsehen zu lassen.“




785. Worin besteht das große Hindernis des Fortschrittes?
„Im Hochmut und im Egoismus. Ich meine den moralischen Fortschritt, denn der intellektuelle ist ein ununterbrochener. Im Anfang scheint er sogar jene Laster in ihrer Tätigkeit zu verdoppeln, indem er den Ehrgeiz und die Geldgier entwickelt, welche dann selbst wieder den Menschen zu Untersuchungen führen; die seinen Geist aufklären. So hängt alles in der moralischen wie in der physischen Welt zusammen und aus dem Übel selbst kann das Gute hervorgehen. Dieser Zustand der Dinge wird aber seine Zeit haben: Er wird sich ändern in dem Maß, wie der Mensch besser erkennen wird, dass es außer dem Genuss der irdischen Güter ein unendlich höheres und dauerhafteres Glück gibt.“ (Siehe: Drittes Buch, Kap. XII, Moralische Vervollkommung, `Vom Egoismus´.)


Es gibt zwei Arten von Fortschritt, die sich gegenseitig unterstützen und die dennoch nicht nebeneinander herschreiten: der intellek – tuelle und der moralische Fortschritt. In unserem Jahrhundert empfängt der erstere bei den zivilisierten Völkern alle wünschenswerte Ermutigung. Er hat auch einen bisher noch nicht gekannten Grad erreicht. Es fehlt dagegen viel, dass der letztere sich auf derselben Stufe befindet, und doch müsste man bei Vergleichung unserer sozialen Sitten mit denen vor einigen Jahrhunderten blind sein, wenn man den Fortschritt leugnen wollte. Warum sollte also der aufsteigende Gang eher im Moralischen als im Intellektuellen stillstehen? Warum sollte der Unterschied zwischen dem neunzehnten und des vierundzwanzigsten Jahrhunderts nicht ebenso groß sein wie der zwischen dem vierzehnten und dem neunzehnten? Daran zweifeln hieße zu behaupten, dass die Menschheit auf dem Höhepunkt der Vollendung angekommen sei, – was ungereimt wäre oder aber, dass sie moralisch nicht vervollkommnungsfähig sei, – was durch die Erfahrung widerlegt wird.




Verkommene Völker

786. Die Geschichte weist auf eine Menge von Völkern, welche nach den Erschütterungen, von denen sie heimgesucht worden waren, wieder in die Barbarei zurücksanken. Wo liegt in diesem Fall der Fortschritt?
„Wenn deinem Haus der Einsturz droht, so reißst du es ein, um ein neues und festeres zu bauen. Aber bis es wieder aufgebaut ist, herrscht Unordnung und Verwirrung in deinem Haus.Erkenne auch dies noch: Du warst arm und bewohntest eine Hütte, du wirst reich und du verlässt sie, um in einem Palast zu wohnen. Dann kommt ein armer Teufel wie du warst und nimmt deinen Platz in der Hütte ein und er ist sogar noch sehr zufrieden, denn früher hatte er gar kein Unterkommen. Nun denn, erkenne, dass die Geister, die in diesem verkommenen Volk inkarniert sind, nicht dieselben sind, welche es zur Zeit seines Glanzes bildeten. Die von damals, welche fortgeschritten waren, sind zu vollkommeneren Wohnsitzen gezogen und sind immer weiter fortgeschritten, während andere weniger fortgeschrittenere ihre Stelle einnahmen, welche sie, wenn die Reihe an sie kommt, auch wieder verlassen werden.“




787. Gibt es nicht Völker, die von Natur aus feindlich gegen den Fortschritt gesinnt sind?
„Ja, aber diese vernichten sich körperlich Tag für Tag.“


787a. Welches wird das künftige Schicksal der Seelen sein, die diese Völker beseelen?“
„Sie werden wie alle anderen zur Vollkomenheit gelangen, indem sie andere Daseinsformen durchlaufen: Gott enterbt keinen.“



787b. Also konnten die gebildetsten Menschen einst Wilde und Menschenfresser gewesen sein?
„Du selbst bist es mehr als einmal gewesen, bevor du das warst, was du jetzt bist.“



788. Die Völker sind Kollektiv – Individualitäten, welche, wie die Einzelmenschen, die Kindheit, das reifere Alter und das Greisenalter durchmachen. Führt diese von der Geschichte erwiesene Wahrheit nicht auf den Gedanken, dass die fortgeschrittensten Völker dieses Jahrhunderts ihren Verfall und ihr Ende finden werden, wie die des Altertums?
„Die Völker, die nur ein leibliches Leben führen, deren Größe nur auf Gewalt und Ausdehnung beruht, entstehen, wachsen und vergehen, weil die Kraft eines Volkes sich erschöpft, wie die des Einzelnen. Die, deren eigennützige Gesetze dem Fortschritt des Lichtes und der Nächstenliebe widerstreiten, sterben, weil das Licht die Finsternis und die Liebe den Egoismus tötet. Für die Völker aber gibt es, wie für den Einzelnen, auch ein Leben der Seele: Diejenigen, deren Gesetze mit den ewigen Gesetzen des Schöpfers in Einklang stehen, werden leben und werden eine Leuchte sein für die anderen Völker.“



789. Wird der Fortschritt einst alle Völker der Erde zu einer einzigen Nation vereinen?
„Nein, nicht in eine einzige Nation, das ist unmöglich; denn aus der Verschiedenheit des Klimas entstehen verschiedene Sitten und Bedürfnisse, welche die Nationalität bestimmen. Darum wird es immer diesen Sitten und Bedürfnissen angepasster Gesetze bedürfen. Die Nächstenliebe aber kennt keine Breitengrade und macht keinen Unterschied zwischen den Farben der Menschen. Wenn das Gesetz Gottes überall die Grundlage der menschlichen Gesetze sein wird, werden auch die Völker die Nächstenliebe unter sich üben, sowie die Einzelmenschen unter sich. Dann werden sie glücklich und in Frieden leben, weil keines dem Nachbarvolk Unrecht zuzufügen oder auf dessen Unkosten zu leben suchen wird.“


Das Menschengeschlecht schreitet fort durch die sich nach und nach unterrichtenden und bessernden Einzelmenschen. Sobald diese die Mehrzahl bilden, so gewinnen sie auch die Oberhand und reißen die anderen mit sich. Von Zeit zu Zeit treten unter ihnen Männer von Genie auf, die einen allgemeinen Aufschwung erwecken, sodann Männer von besonderem Ansehen, Werkzeuge Gottes, die das Menschengeschlecht in wenigen Jahren um mehrere Jahrhunderte vorwärtsbringen.


Auch der Fortschritt der Völker stellt die Gerechtigkeit der Reinkarnation in ein helles Licht. Die rechtschaffenen Menschen machen löbliche Anstrengungen, eine Nation moralisch und intellektuell vorwärts zu bringen. Aber während des langsamen Ganges durch die Jahrhunderte sterben täglich Tausende von Individuen. Was ist nun das Los derjenigen, die auf diesem Zug unterliegen? Beraubt sie ihre verhältnismäßig niedere Entwicklungsstufe des für die zuletzt Ankommenden vorbehaltenen Glücks? Oder ist ihr Glück nur ein verhältnismäßiges und halbes? Die göttliche Gerechtigkeit vermöchte keine solche Ungerechtigkeit zu besiegeln. Durch die Vielheit der Daseinsformen wird das Recht auf Glück für alle dasselbe, denn jeder ist der Möglichkeit seines Fortschrittes sicher. Da die, welche zur Zeit der Barbarei lebten, zur Zeit der Zivilisation zurückkehren können in das gleiche Volk oder auch in ein anderes, so ziehen alle aus dem aufsteigenden Gang der Geschichte Nutzen.


Die Lehre von der Einheit der Daseinsformen bietet dagegen eine besondere Schwierigkeit. Nach dieser Lehre wird die Seele im Augenblick der Geburt geschaffen. Wenn also ein Mensch weiter fortgeschritten ist als ein anderer, so muss Gott ihm eine fortgeschrittenere Seele geschaffen haben. Woher nun diese Bevorzugung? Was für ein Verdienst hat er, der nicht länger als ein anderer lebte, ja oft weniger, was für einen Anspruch hat er auf eine höher geartete Seele. Aber nicht hierin liegt die Hauptschwierigkeit. Eine Nation geht in einem Jahrtausend von der Barbarei zur Zivilisation über. Lebten die Menschen tausend Jahre, so würde man begreifen können, dass sie in dieser Periode Zeit hätten zum Fortschreiten. Aber täglich sterben welche in jedem Lebensalter, sie erneuern sich unaufhörlich, so dass jeder Tag ihrer viele erscheinen und verschwinden sieht. Nach Verfluss jenes Jahrtausends ist keine Spur mehr von den alten Einwohnern zu finden. Die Nation ist aus einer barbarischen zu einer zivilisierten geworden. Wer ist nun fortgeschritten? Sind es die einst barbarischen Einzelmenschen? Aber diese sind ja längst tot. Sind es die neuen Ankömmlinge? Aber wenn ihre Seele im Augenblick der Geburt geschaffen wurde, so existierten diese Seelen noch nicht zur Zeit der Barbarei und dann muss man zugestehen, dass die zur Zivilisierung eines Volkes gemachten Anstrengungen die Macht haben, nicht unvollkommene Seelen zu bessern, sondern von Gott vollkommenere Seelen schaffen zu lassen.


Vergleichen wir diese Lehre mit der von den Geistern gegebenen. Die zur Zeit der Zivilisation geborenen Seelen hatten ihre Kindheit wie alle anderen. Aber sie haben schon gelebt und wurden durch frühere Fortschritte vervollkommnet geboren. Sie kommen, angezogen von einer ihnen sympathischen Umgebung, die zu ihrem gegenwärtigen Standpunkt im Verhältnis steht. So haben die für die Zivilisation eines Volkes aufgewandten Bemühungen nicht die Wirkung, künftig die Erschaffung vollkommenerer Seelen herbeizuführen, sondern vielmehr solche heranzuziehen, die schon fortgeschritten sind, mögen sie nun früher beim gleichen Volk zur Zeit seiner Barbarei gelebt haben oder mögen sie anderswoher kommen. Hierin liegt auch der Schlüssel zum Fortschritt der gesamten Menschheit. Wenn einst alle Völker auf derselben Stufe der Empfänglichkeit für das Gute stehen werden, so wird die Erde nur noch der Sammelplatz guter Geister sein, die unter sich in brüderlicher Einigkeit leben. Während die bösen Geister sich von hier abgestoßen fühlend, auf niedrigeren Welten die für sie passende Umgebung aufsuchen werden, bis sie einst würdig befunden werden, auf unsere umgewandelte Erde zu kommen. Die allgemeine Annahme hat ferner auch noch die Folge, dass die Arbeiten zu sozialen Verbesserungen nur den gegenwärtigen und künftigen Geschlechtern zugute kommen. Ihr Ergebnis ist für die vergangenen Geschlechter, die den Fehler begingen, zu früh zu kommen, gleich Null, so dass sie nun werden mögen was sie eben können – belastet mit der Vergangenheit eines barbarischen Lebens. Nach der Lehre der Geister bringen die späteren Fortschritte ebenso sehr diesen, jetzt unter besseren Bedingungen wieder ins Leben eintretenden Geschlechtern Nutzen, welche sich so am Brennpunkt der Zivilisation vervollkommnen können. (222.)




Zivilisation

790. Ist die Zivilisation ein Fortschritt oder, wie einige Philosophen meinen, ein Niedergang der Menschheit?
„Ein unvollständiger Fortschritt: Der Mensch springt nicht auf einmal von der Kindheit in das reife Alter hinein.“


790a. Ist es vernunftgemäß, die Zivilisation zu verdammen?
„Verdammt vielmehr die, welche sie missbrauchen, nicht aber das Werk Gottes.“



791. Wird sich die Zivilisation nicht soweit reinigen, dass sie die von ihr erzeugten Übel wieder wird verschwinden lassen?
„Ja, wenn der moralische Sinn ebenso weit entwickelt sein wird, wie die Intelligenz. Die Frucht kann nicht vor der Blüte kommen.“



792. Warum verwirklicht die Zivilisation nicht unmittelbar alles Gute, das sie hervorbringen könnte?
„Weil die Menschen weder schon reif noch schon empfänglich sind, es aufzunehmen.“



792a. Könnte der Grund nicht auch darin liegen, dass sie durch Hervorbringung neuer Bedürfnisse auch die neuen Leidenschaften überreizen würde?
„Ja, und weil nicht alle geistigen Fähigkeiten gleichzeitig fortschreiten: Alles braucht seine Zeit. Von einer unvollständigen Zivilisation könnt ihr keine vollkommenen Früchte erwarten.“ (751. bis 780.)



793. An welchen Anzeichen kann man eine vollständige Zivilisation erkennen?
„Ihr erkennt sie an der moralischen Entwicklung. Ihr haltet euch für sehr fortgeschritten, weil ihr große Entdeckungen und wunderbare Erfindungen gemacht habt, weil ihr bessere Wohnungen und eine bessere Bekleidung habt, als die Wilden. In Wahrheit werdet ihr euch aber erst dann zivilisiert nennen dürfen, wenn ihr aus eurer Gesellschaft die sie entehrenden Laster verbannt und untereinander wie Brüder leben werdet, indem ihr christliche Nächstenliebe übt. Bis dahin seid ihr nur aufgeklärte Völker, da ihr nur die erste Strecke der Zivilisation durchschritten habt.“


Die Zivilisation hat ihre Stufen wie alles. Eine unvollständige Zivilisation ist ein Übergangspunkt, der besondere Übel erzeugt, die der Naturzustand nicht kennt. Nichtsdestoweniger aber bringt sie einen natürlichen und notwendigen Fortschritt hervor, der auch das Heilmittel für das von ihr erzeugte Übel in sich schließt. Je mehr die Zivilisation sich vervollkommnet, desto mehr vermindert sie einige der von ihr erzeugten Übel und diese werden mit dem moralischen Fortschritt endlich ganz verschwinden.


Von zwei an der Spitze der sozialen Stufenleiter angelangten Völkern darf nur das sich im wahren Sinne des Wortes das zivilisiertere nennen, bei dem sich wenige Egoismus Begehrlichkeit und Hochmut vorfindet, wo die Gewohnheiten mehr geistiger und moralischer Art sind, wo die Intelligenz sich mit größerer Freiheit entwickeln kann, wo sich am meisten gegenseitige Güte, Treue und Glauben, Wohlwollen und Edelmut findet, wo die Standesvorurteile am wenigsten tief wurzeln – denn diese vertragen sich nicht mit wahrer Nächstenliebe, wo die Gerechtigkeit unparteiischer verwaltet wird, wo der Schwache stets Schutz gegen den Starken findet, wo des Menschen Leben, Glauben und Meinungen am meisten geachtet werden, wo es am wenigsten Unglückliche gibt und endlich wo jeder Mensch von gutem Willen stets sicher ist, nicht am Notwendigen Mangel leiden zu müssen.




Fortschritt der menschlichen Gesetzgebung

794. Könnte die Gesellschaft allein von den natürlichen und ohne die Beihilfe der menschlichen Gesetze regiert werden?
„Sie könnte dies, wenn man dieselben richtig verstände, und sie würden auch reichen, wenn man den Willen hätte, nach ihnen zu leben. Aber die Gesellschaft stellt ihre Forderungen und sie bedarf besonderer Gesetze.“


795. Was ist die Ursache der Unbeständigkeit der menschlichen Gesetze?
„In den Zeiten der Barbarei gaben die Stärkeren die Gesetze und sie gaben sie zu ihrem eigenen Nutzen. Dann mussten sie freilich abgeändert werden, je mehr die Menschen die Gerechtigkeit erkannten. Die menschlichen Gesetze haben umso mehr Bestand, je mehr sie sich der wahren Gerechtigkeit annähern, d.h. je mehr sie zum Nutzen aller gegeben werden und mit dem natürlichen Gesetz zusammenfallen.“


Die Zivilisation schuf für den Menschen neue Bedürfnisse und diese Bedürfnisse entsprechen seiner gesellschaftlichen Stellung. Er musste die Rechte und Pflichten dieser durch die menschlichen Gesetze ordnen. Unter dem Einfluss seiner Leidenschaften jedoch schuf er oft eingebildete Rechte und Pflichten, welche vom natürlichen Gesetz verdammt und von den Völkern in dem Maße, als sie fortschreiten, aus ihren Gesetzbüchern gestrichen werden. Das natürliche Gesetz ist unveränderlich und für alle dasselbe. Das menschliche Gesetz ist veränderlich und fortschreitend. Es allein konnte zur Zeit der Kindheit der Gesellschaften das Recht des Stärkeren einführen.



796. Ist ein strenges Strafgesetz beim gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft nicht eine Notwendigkeit?
„Eine verdorbene Gesellschaft bedarf ohne Zweifel strengerer Gesetze. Unglücklicherweise sind diese Gesetze mehr darauf gerichtet, das geschehene Böse zu bestrafen, als die Quelle desselben zu verstopfen. Nur die Erziehung kann die Menschen erneuern und verbessern. Dann werden sie aber auch keiner so strengen Gesetze mehr bedürfen.“



797. Wie wird der Mensch dazu gebracht werden können, seine Gesetze zu verbessern?
„Das macht sich auf natürlichem Weg durch die Gewalt der Umstände und den Einfluss rechtschaffener Männer, die ihn auf der Bahn des Fortschritts führen. Er hat schon viele verbessert und wird noch sehr viele verbessern. Nur Geduld!“




Einfluss des Spiritismus auf den Fortschritt

798. Wird der Spiritismus ein allgemeiner Glaube werden oder wird er nur von einigen Personen geglaubt werden?
„Gewiss wird er ein allgemeiner Glaube werden und er wird einen neuen Abschnitt in der Geschichte der Menschheit bezeichnen. Denn er liegt in der Natur selbst und die Zeit ist gekommen, wo er seine Stelle und seinen Rang unter den menschlichen Erkenntnissen einzunehmen hat. Jedoch wird er große Kämpfe zu bestehen haben, weniger gegen die Überzeugung, als gegen das Interesse; denn man darf sich nicht verhehlen, dass die einen ihn aus Eigenliebe, die anderen aus ganz materiellen Gründen bekämpfen. Mehr und mehr aber werden die Gegner vereinzelt dastehen und schließlich genötigt sein, so zu denken wie jedermann, bei Gefahr sich sonst lächerlich zu machen.“


Die Ideen wandeln sich nur langsam und nie sprungweise um. Von Geschlecht zu Geschlecht schwächen sie sich ab und verschwinden endlich allmählich mit ihren Bekennern, die durch andere Individuen mit neuen Grundanschauungen ersetzt werden, wie dies bei den politischen Ideen stattfindet. Seht das Heidentum: Gewiss gibt es heutzutage keinen Menschen, der die religiösen Ideen jener Zeiten bekennt; und dennoch haben dieselben noch mehrere Jahrhunderte nach dem Erscheinen des Christentums Spuren zurückgelassen, die erst und einzig und allein die völlige Erneuerung der Völker verwischen konnte. So wird es auch mit dem Spiritismus geschehen. Er macht große Fortschritte, er wird aber noch durch zwei oder drei Generationen ein Sauerteig des Unglaubens bleiben, den die Zeit allein verschwinden lassen wird. Immerhin aber wird sein Fortschritt ein rascherer sein, als der des Christentums, weil dieses letztere selbst ihm die Wege ebnet und er sich auf dasselbe stützt. Das Christentum musste erst zerstören, der Spiritismus darf nur weiterbauen.



799. Auf welche Weise kann der Spiritismus zum Fortschritt beitragen?
„Durch Vernichtung des Materialismus, der eine der Wunden und Plagen der Gesellschaft ist, lässt er die Menschen erkennen, wo ihr wahres Interesse liegt. Da das zukünftige Leben nicht mehr von Zweifel verschleiert wird, so wird der Mensch besser als bisher begreifen, dass er sich seine Zukunft durch die Gegenwart sichern kann. Indem er ferner die Vorurteile der Sekten, Kasten und Haufarben zerstört, lehrt er die Menschen ihre große, wechselseitige Verpflichtung, die sie als Brüder einigen soll.“



800. Ist es nicht zu befürchten, dass der Spiritismus über die Gleichgültigkeit der Menschen und deren Anhänglichkeit an die Dinge dieser Welt nicht siegen könnte?
„Es hieße die Menschen sehr wenig zu kennen, wenn man meinte, irgend etwas könne sie wie mit einem Zauberschlag verwandeln. Die Ideen verändern sich allmählich, je nach den Individuen, und es braucht Generationen, um die Spuren der alten Gewohnheiten ganz zu verwischen. Die Umwandlung kann somit nur langsam und stufenweise vor sich gehen. Für jedes Geschlecht fällt ein Teil des Schleiers. Der Spiritismus kommt und zerreißt ihn ganz. Hätte er aber vorläufig nur die Wirkung, an einem Menschen einen einzigen Fehler zu verbessern, so wäre das ein Schritt, den der Spiritismus veranlasst hätte, und eine große Wohltat; denn dieser erste Schritt wird ihm die späteren erleichtern.“


801. Warum lehrten die Geister nicht zu allen Zeiten, was sie heute lehren?
„Ihr lehrt nicht die Kinder, was ihr die Erwachsenen lehrt und ihr gebt nicht dem Neugeborenen eine Nahrung, die es nicht verdauen könnte. Jedes Ding hat seine Zeit. Sie lehrten vieles, was die Menschen nicht verstanden oder das sie entstellten, das sie aber jetzt begreifen können. Durch ihre, wenn auch unvollständige Belehrung bereiteten sie den Boden, der jetzt Frucht bringen wird.“



802. Da der Spiritismus einen Fortschritt im Menschengeschlecht bezeichnen soll, warum beschleunigen dann die Geister denselben nicht durch so allgemeine und offenkundige Manifestationen, dass selbst die ungläubigsten überzeugt werden müssten?
„Ihr möchtet Wunder schauen, aber Gott streut sie mit vollen Händen auf eure Wege und dennoch gibt es noch Menschen, die Gott leugnen. Hat Christus selbst seine Zeitgenossen durch seine Wunder überzeugt? Seht ihr nicht heute die Menschen die offenkundigsten Tatsachen, die sich vor ihren Augen ereignen, wegleugnen? Habt ihr nicht Leute unter euch, die da sagen, sie werden nicht glauben, selbst wenn sie schauten? Nein, nicht durch Wunder will Gott die Menschen sich wieder erobern. In seiner Güte lässt er ihnen das Verdienst, sich durch die Vernunft zu überzeugen.“





KAPITEL IX – VIII. Das Gesetz der Gleichheit



Natürliche Gleichheit

803. Sind vor Gott alle Menschen gleich?
„Ja, alle streben demselben Ziel zu und Gott gab seine Gesetze für alle. Ihr sagt so oft `die Sonne scheint für alle´ und damit sprecht ihr eine größere Wahrheit aus, als ihr denkt.“


Alle Menschen sind denselben Naturgesetzen unterworfen. Alle werden in derselben Schwachheit geboren, leiden dieselben Schmerzen und der Leib des Reichen vergeht wie der des Armen. Gott gab somit keinem Menschen eine durch die Natur gesetzte Überlegenheit weder durch die Geburt noch durch den Tod: alle sind vor ihm gleich.




Ungleichheit der Anlagen

804. Warum gab Gott nicht allen Menschen dieselben Anlagen?
„Gott schuf alle Geister gleich; aber jeder von ihnen hat mehr oder weniger gelebt, folglich mehr oder weniger erfahren. Der Unterschied liegt im Grad ihrer Erfahrung und in ihrem Willen, der frei wählen kann. Daher vervollkommnen sich die einen rascher, was ihnen wiederum verschiedene Anlagen verleiht. Die Mischung der Anlagen ist notwendig, damit jeder zu den Absichten der Vorsehung mitwirken kann innerhalb der Grenzen der Entwicklung seiner leiblichen und geistigen Kräfte. Was der eine nicht tut, tut der andere. So hat jeder seine nützliche Aufgabe. Da ferner alle Welten in wechselseitiger Verpflichtung untereinander stehen, so müssen wohl die Bewohner der höheren und meistenteils vor der eurigen geschaffenen Welten bei euch inkarnieren, um euch ein Beispiel zu geben.“ (361.)



805. Bewahrt sich der Geist, wenn er von einer höheren in eine niedrigere Welt herabsteigt, die Vollkraft seiner erworbenen Fähigkeiten?
„Ja, wir sagten es schon, der fortgeschrittene Geist geht nicht mehr rückwärts. Er kann in seinem Zustand als Geist sich eine starrere Hülle oder eine zweifelhaftere, unsicherere Stellung als seine frühere wählen, aber das alles stets nur, damit es ihm zur Lehre dient und ihn im Fortschreiten unterstützt.“ (180.)


So stammt die Verschiedenheit der Anlagen der Menschen nicht aus der inneren Natur ihrer Erschaffung, sondern aus dem Grad der Vervollkommnung, den die in ihnen inkarnierten Geister erreicht haben. Gott schuf somit nicht eine Ungleichheit der Befähigungen, sondern er ließ es zu, dass die verschiedenen Entwicklungsgrade miteinander in Berührung stehen, auf dass die mehr Fortgeschrittenen dem Vorwärtskommen der weiter Zurückgebliebenen helfen können und ebenso, damit die Menschen, die einander gegenseitig bedürfen, das Gesetz der Nächstenliebe erkennen, das sie einigen soll.




Soziale Ungleichheiten

806. Ist die Ungleichheit der gesellschaftlichen Stellungen und Verhältnisse ein Naturgesetz?
„Nein, sie ist das Werk des Menschen und nicht Gottes.“


806a. Wird dieselbe einst verschwinden?
„Nur Gottes Gesetze sind ewig. Siehst du dieselbe nicht jeden Tag sich etwas mehr verwischen? Diese Ungleichheit wird zusammen mit der Vorherrschaft des Hochmutes und des Egoismus verschwinden. Nur die Ungleichheit des Verdienstes wird bleiben. Der Tag wird kommen, wo die Glieder der großen Familie der Kinder Gottes sich nicht mehr als von mehr oder weniger reinem Blut ansehen werden. Nur der Geist ist mehr oder weniger rein und das hängt nicht von der gesellschaftlichen Stellung ab.“



807. Was ist von denen zu halten, die ihre höhere soziale Stellung dazu missbrauchen, den Schwachen zu ihrem Vorteil zu unterdrücken?
„Diese bringen Schande über sich: Wehe ihnen! Auch an sie wird die Reihe kommen unterdrückt zu werden und sie werden zu einem Dasein wiedergeboren werden, in welchem sie alles, was sie erdulden ließen, selbst erdulden werden.“ (684.)




Ungleichheit des Reichtums

808. Hat die Ungleichheit des Reichtums nicht ihre Quelle in der Ungleichheit der Fähigkeiten, wodurch den einen mehr Mittel zum Erwerb als den anderen zufallen?
,,Ja und nein. Und die Arglist und der Diebstahl, was hältst du davon?“


808a. Der ererbte Reichtum ist doch nicht die Frucht schlechter Leidenschaften?
„Woher weißt du das? Gehe an die Quelle und sieh, ob sie immer rein ist. Weißt du, ob er nicht ursprünglich die Frucht einer Beraubung oder einer Ungerechtigkeit gewesen ist? Aber ohne von seiner Entstehung zu reden, welche eine schlechte gewesen sein mag, meinst du, dass die Begierde selbst nach den wohlerworbenen Gütern, das heimliche Sehnen, schneller in ihren Besitz zu gelangen, löbliche Gefühle sind? Das ist es, was Gott richtet und ich versichere dir, dass sein Gericht ein strengeres ist, als das der Menschen.“



809. Wenn ein Vermögen ursprünglich übel erworben wurde, sind dann die, welche es erben, dafür verantwortlich?
„Ohne Zweifel sind sie nicht für das verantwortlich, was andere etwa taten, umso weniger, als sie dies vielleicht nicht einmal wissen. Bedenke aber, dass ein Vermögen oft einem Menschen zufällt, nur damit er Gelegenheit hat, eine Ungerechtigkeit wiedergut zu machen. Wohl ihm, wenn er das einsieht! Tut er das im Namen desjenigen, der die Ungerechtigkeit begangen hat, so wird allen beiden für den Schadenersatz Rechnung getragen werden, denn oft ist es der Letztere, der ihn veranlasste.




810. Man kann, ohne sich vom Gesetz zu entfernen, in einer mehr oder weniger gebilligten Weise über seine Güter verfügen. Ist man nun nach dem Tod für die getroffenen Verfügungen verantwortlich?
„Jede Handlung trägt ihre Früchte. Die der guten Handlungen sind süß, die der anderen sind immer bitter, immer, wisset es nur wohl.“



811. Ist eine bedingte Gleichheit des Reichtums überhaupt möglich und hat eine solche jemals existiert?
„Nein, sie ist nicht möglich: Die Verschiedenheit der Fähigkeiten und Charakteren widerstreitet dem.“


811a. Aber es gibt doch Menschen, die da meinen, hierin liege die Arznei für die Übel der Gesellschaft. Was denkt ihr davon?
„Das sind Systemmacher oder neidische Ehrgeizige. Sie sehen nicht ein, dass ihre geträumte Gleichheit sehr bald durch die Macht der Dinge aufgehoben würde. Bekämpft den Eigennutz, der ist euer soziales Grundübel und kümmert euch nicht um Chimären.“



812. Wenn die Gleichheit des Reichtums nicht möglich ist, verhält es sich dann ebenso mit derjenigen des Wohlergehens?
„Nein, aber letzteres ist relativ und jeder könnte seiner teilhaftig werden, wenn man sich recht verstände ..., denn das wahre Wohlergehen besteht darin, dass einer seine Zeit nach seinem eigenen Geschmack anwenden kann und nicht zu Arbeiten gezwungen wird, an denen er keinen Gefallen hat. Da nun jeder andere Fähigkeiten besitzt, so bliebe keine nützliche Arbeit mehr zu tun übrig. Nur der Mensch will das überall vorhandene Gleichgewicht stören.“


812a. Ist es möglich, sich zu verständigen?

„Die Menschen werden sich verständigen, wenn sie das Gesetz der Gerechtigkeit einhalten werden.“



813. Es gibt Leute, die durch ihre eigenen Fehler in Entbehrung und Elend fallen. Da kann doch die Gesellschaft nicht dafür verantwortlich sein?
„Doch; wir sagten schon einmal, gerade die Gesellschaft ist oft die erste Ursache solcher Fehler. Und hat sie übrigens nicht über die moralische Erziehung zu wachen? Oft ist es die schlechte Erziehung, welche ihr Urteil fälschte, statt die schädlichen Neigungen bei ihnen im Keim zu ersticken.“ (685.)




Prüfungen des Reichtums und der Armut

814. Warum gab Gott dem einen Reichtum und Macht und dem andern Armut und Elend?
„Um einen jeden auf verschiedene Weise zu prüfen. Übrigens waren es, wie ihr wisst, die Geister selbst, welche das eine oder das andere wählten und oft unterliegen sie dann.“


815. Welche der beiden Prüfungen ist für den Menschen mehr zu fürchten, die des Unglücks oder die des Glücks?
„Beide sind gleich sehr zu fürchten. Das Elend reizt zum Murren gegen die Vorsehung, Glück und Reichtum zu allen Ausschweifungen.“



816. Wenn der Reiche mehr Versuchungen hat, besitzt er nicht auch mehr Mittel, das Gute zu tun?
„Das eben tut er nicht immer. Er wird egoistisch, hochmütig, unersättlich, seine Bedürfnisse wachsen mit seinem Reichtum und niemals glaubt er für sich allein genug zu haben.“



Die hohe Stellung in dieser Welt und das Ansehen gegenüber seinesgleichen sind ebenso große und schlüpfrige Prüfungen, wie das Unglück. Denn je reicher und mächtiger einer ist, desto mehr Verpflichtungen hat er zu erfüllen und desto größer sind die Mittel das Gute und das Böse zu tun, Gott prüft den Armen durch die Ergebung und den Reichen durch den Gebrauch, den er von seiner Macht und von seinen Gütern macht. Reichtum und Macht lassen alle Leidenschaften entstehen, die uns an den Stoff fesseln und von der geistigen Vervollkommnung entfernen. Darum sprach Jesus: ,,Wahrlich, ich sage euch, ein Kamel wird leichter durch ein Nadelöhr gehen, als ein Reicher in das Himmelreich eingehen.“ (266.)





Gleichheit der Rechte des Mannes und der Frau

817. Sind Mann und Frau vor Gott gleich und haben sie dieselben Rechte?
„Schenkte Gott nicht beiden die Erkenntnis des Guten und des Bösen und die Fähigkeit fortzuschreiten?“


818. Woher stammt die niedrigere moralische Stufe der Frau in gewissen Gegenden?
„Von der ungerechten und grausamen Herrschaft des Mannes über die Frau. Das ist eine Folge der sozialen Einrichtungen und des Missbrauchs der Kraft gegenüber der Schwäche. Bei den in moralischer Beziehung wenig fortgeschrittenen Menschen tritt an die Stelle des Rechts die Gewalt.“



819. Zu welchem Zweck ist die Frau physisch schwächer, als der Mann?
„Damit ihm besondere Verrichtungen zugewiesen werden. Der Mann, als der stärkere, ist zu harten Arbeiten geeignet, die Frau zu leichteren und beide sollen sich daher gegenseitig helfen, die Prüfungen eines Lebens voll Schmerz und Bitterkeit durchzumachen.“


820. Setzt seine physische Schwäche die Frau nicht naturgemäß in Abhängigkeit vom Mann?
„Gott gab den einen Stärke, damit sie den Schwachen beschützen, nicht um ihn zu unterjochen.“


Gott hat die physische Veranlagung eines jeden Wesens seinen ihm eigentümlichen Verrichtungen angepasst. Wenn er der Frau eine geringere physische Kraft gab, so beschenkte er sie gleichzeitig mit einem feineren Empfinden in Bezug auf die Zartheit ihrer Mutterpflichten und die Schwachheit der ihrer Sorge anvertrauten Wesen.



821. Haben die Verrichtungen, zu denen die Frau von der Natur bestimmt ist, eine ebenso hohe Wichtigkeit wie diejenigen, die dem Manne zugefallen sind?
„Ja, und eine noch höhere: die Frau ist es, das dem Menschen den ersten Begriff vom Leben gibt.“



822. Wenn die Menschen gleich sind vor Gottes Gesetz, müssen sie es auch vor dem menschlichen Gesetze sein?
„Der erste Grundsatz der Gerechtigkeit heißt: Tut einem andern nicht, was ihr euch selbst nicht getan sehen möchtet.“


822a. Soll demnach eine Gesetzgebung, um völlig gerecht zu sein, die Gleichheit der Rechte zwischen Mann und Frau aussprechen?
„Der Rechte, – ja, der Verrichtungen, – nein. Jeder soll seinen ihm angewiesenen Platz ausfüllen: Der Mann beschäftige sich mit dem Äußeren, die Frau mit dem Inneren; jedes nach seiner Anlage. Das menschliche Gesetz soll, um gerecht zu sein, die Gleichheit der Rechte zwischen Mann und Frau aussprechen: jedes dem einen oder dem anderen eingeräumte Vorrecht widerspricht der Gerechtigkeit. Die Emanzipation der Frauen entspricht dem Fortschritt der Zivilisation, deren Unterdrückung der Barbarei. Die Geschlechter existieren übrigens nur wegen der physischen Veranlagung. Da die Geister das eine wie das andere wählen können, so gibt es in dieser Beziehung keinen Unterschied zwischen ihnen, folglich sollen beide dieselben Rechte genießen.“




Gleichheit vor dem Grab

823. Woher kommt der Wunsch, sein Gedächtnis durch ein Grabmal zu verewigen?
„Es ist die letzte Tat des Hochmuts.“


823a. Ist aber die Kostbarkeit der Grabmäler nicht oft mehr Sache der Verwandten, die den Verstorbenen ehren wollen, als des Verstorbenen selbst?
„Hochmut der Verwandten, die sich selbst verherrlichen möchten. 0h!; ja, man macht solche Kundgebungen gar nicht immer um des Toten willen: Aus Eigenliebe geschieht es und um der Welt willen und um mit ihrem Reichtum zu prahlen. Meinst du, das Andenken an ein geliebtes Wesen sei weniger dauerhaft in dem Herzen des Armen, weil er nur eine Blume auf dessen Grab zu legen hat? Meinst du, der Marmor rette denjenigen vor der Vergessenheit, der unnütz über die Erde wandelte?“




824. Tadelt ihr unbedingt den Pomp der Leichenbegängnisse?
„Nein, wenn er das Andenken eines rechtschaffenen Mannes ehrt, so ist er gerecht und gibt ein gutes Beispiel.“



Das Grab ist das Stelldichein aller Menschen. Hier endigen unbarmherzig alle menschlichen Unterschiede. Vergeblich sucht der Reiche sein Andenken durch pompöse Grabmäler zu verewigen: die Zeit wird sie zerstören wie den Leib; so will es die Natur. Die Erinnerung an seine guten und bösen Handlungen wird weniger vergänglich sein, als sein Grab. Die Pracht des Lei – chenbegängnisses wird ihn nicht von seinen Schändlichkeiten reinwaschen und wird ihn um keine Sprosse auf der Stufenleiter der Geister weiterbringen. (320 ff.)





KAPITEL X - IX. Das Gesetz der Freiheit



Natürliche Freiheit

825. Gibt es Lagen in der Welt, wo der Mensch sich schmeicheln dürfte, eine unbedingte Freiheit zu genießen?
„Nein, weil ihr alle einander nötig habt, Große wie Kleine.“


826. In welchem Zustand könnte der Mensch etwa eine unbedingte Freiheit genießen?
,,Als Einsiedler in der Wüste. So wie zwei Mensche beisammen sind, haben sie Rechte zu achten und folglich keine unbedingte Freiheit mehr.“


827. Nimmt die Verpflichtung die Rechte anderer zu achten, dem Menschen das Recht, sich selbst zu sein?
„In keiner Weise, denn dieses Recht kommt ihm von Natur zu.“


828. Wie soll man die freisinnigen Ansichten gewisser Menschen mit dem, von ihnen selbst in ihrem Haus und gegen ihre Untergebenen ausgeübten Despotismus in Einklang bringen?
„Sie haben ein Verständnis des Naturgesetzes, aber es findet sein Gegengewicht in ihrem Hochmut und Egoismus. Sie erkennen, was sein soll – wenn wenigstens ihre Grundsätze nicht nur eine berechnete Komödie sind, – aber sie tun es nicht.“


828a. Wird den, von ihnen hier bekannten Grundsätzen im anderen Leben Rechnung getragen werden?
„Je mehr Verstand einer hat um einen Grundsatz zu verstehen, desto weniger ist er zu entschuldigen, wenn er ihn nicht auf sich selbst anwendet. Wahrlich, ich sage euch: der einfache, aber lautere Mensch steht höher auf dem Weg zu Gott, als der, welcher scheinen möchte, was er nicht ist.“




Sklaverei

829. Gibt es Menschen, die von Natur dazu bestimmt sind, das Eigentum anderer Menschen zu sein?
„Jede unbedingte Unterwerfung eines Menschen unter einen anderen widerspricht dem Gesetz Gottes. Die Sklaverei ist ein Missbrauch der Gewalt. Sie verschwindet mit dem Fortschritt, wie alle Missbräuche allmählich verschwinden werden.“


Das menschliche Gesetz, das die Sklaverei aufrecht erhält, ist ein widernatürliches Gesetz, weil es den Menschen dem Tier gleich macht und ihn physisch wie moralisch herabwürdigt.


830. Wenn die Sklaverei in die Sitten eines Volkes aufgenommen ist, sind dann die, welche aus derselben Nutzen ziehen, zu tadeln, da sie sich ja doch nur einem ihnen natürlich scheinenden Gebrauch unterziehen?
„Übel bleibt Übel und alle eure Trugschlüsse bringen es nicht dahin, dass eine schlechte Handlung zu einer guten werde. Aber die Verantwortlichkeit für das Böse richtet sich nach den Mitteln und der Möglichkeit es zu erkennen. Wer aus dem Gesetz der Sklaverei Nutzen zieht, ist stets einer Verletzung des Naturgesetzes schuldig, aber hier richtet sich wie überall die Schuld nach den Umständen. Da die Sklaverei einmal in die Sitten gewisser Völker übergegangen war, konnte der Mensch in gutem Glauben aus ihr, als einer ihm natürlich scheinenden Sache Nutzen ziehen; sobald aber seine Vernunft, höher entwickelt und besonders von dem Licht des Christentums erleuchtet, ihm in dem Sklaven einen, ihm vor Gott Gleichstehenden zeigte, hatte er keine Entschuldigung mehr.“



831. Bringt die natürliche Ungleichheit der Fähigkeiten nicht gewisse Völker in Abhängigkeit von den intelligenteren Völkern?
,,Ja, um sie emporzuheben, nicht um sie durch Knechtschaft noch mehr zu verdummen. Die Menschen haben zu lange gewisse Völker als Last – und Haustiere mit Händen und Füßen betrachtet, die sie als solche zu kaufen und zu verkaufen berechtigt seien. Sie meinen, ein reineres Blut zu besitzen: Narren, die überall nur den Stoff sehen! Nicht das Blut ist mehr oder weniger rein, sondern der Geist.“ (361. bis 803.)




832. Es gibt Menschen, die ihre Sklaven menschlich behandeln, die sie an nichts Mangel leiden lassen und der Ansicht vertreten, dass die Freiheit dieselben größeren Entbehrungen aussetzen würde. Was sagt ihr dazu?
„Ich sage, dass diese ihren Vorteil besser verstehen: sie tragen auch für ihre Ochsen und Pferde große Sorge, um auf dem Markt größeren Nutzen aus denselben zu ziehen. Sie sind nicht so strafbar wie die, welche sie misshandeln, aber sie verfügen über sie nichtsdestoweniger wie über eine Ware, indem sie sie des Rechts berauben sich selbst zu gehören.“




Denkfreiheit

833. Gibt es im Menschen etwas, das jedem Zwang sich entzieht und worin er einer unbedingten Freiheit sich erfreut?
„In seinem Denken besitzt der Mensch eine schrankenlose Freiheit, denn jenes kennt keine Hindernisse. Man kann seinen Aufschwung niederhalten, nicht aber es vernichten.“



834. Ist der Mensch für sein Denken verantwortlich?
„Vor Gott ist er dafür verantwortlich. Indem Gott allein es kennen kann, verdammt er es oder spricht er es frei nach seiner Gerechtigkeit.“




Gewissensfreiheit

835. Ist die Gewissensfreiheit eine Folge der Denkfreiheit?
„Das Gewissen ist ein Denken im Innersten des Menschen, das ihm wie alle seine anderen Gedanken zu eigen gehört.“


836. Hat der Mensch das Recht, die Gewissensfreiheit zu beschränken?
„Ebenso wenig als die Denkfreiheit, denn Gott allein kommt das Recht zu, das Gewissen zu richten. Wenn der Mensch die Beziehungen von Mensch zu Mensch durch seine Gesetze ordnet, so ordnet Gott die Beziehungen des Menschen zu Gott durch die Gesetze der Natur.“



837. Was ist die Folge der Beschränkung der Gewissensfreiheit?
„Die Menschen zwingen, anders zu handeln, als sie denken, heißt sie zu Heuchlern machen. Die Gewissensfreiheit ist eines der besonderen Kennzeichen der wahren Zivilisation und des Fortschritts.“



838. Ist jeder Glaube zu achten, selbst wenn er offenbar falsch wäre?
„Jeder Glaube ist zu achten, wenn er aufrichtig gemeint ist und zum Tun des Guten führt. Die verdammenswerten Glaubensmeinungen sind diejenigen, welche zum Bösen führen.“




839. Verdient man Tadel, wenn man denjenigen in seinem Glauben ärgert, der nicht dasselbe glaubt, wie wir?
„Das heißt der Nächstenliebe ermangeln und die Denkfreiheit beeinträchtigen.“



840. Verletzt man die Gewissensfreiheit, wenn man Glaubensmeinungen beschränkt, welche die Gesellschaft zu stören geeignet wären?
„Die Handlungen kann man verhindern, der innerste Glaube aber bleibt unzugänglich.“


Die aus einem bestimmten Glauben entspringenden Handlungen zu unterdrücken, wenn dieselben irgend jemanden Nachteil bringen, ist keine Verletzung der Gewissensfreiheit, denn diese Unterdrückung belässt dem Glauben seine volle Freiheit.



841. Muss man aus Achtung vor der Gewissensfreiheit schädlichen Lehren freien Lauf lassen oder darf man, ohne diese Freiheit zu verletzen, diejenigen, welche von falschen Grundsätzen irregeleitet sind, auf den Weg der Wahrheit zurückzuführen suchen?

„Gewiss darf man das, ja man soll es sogar: Lehret dann aber nach Jesu Beispiel mit Sanftmut und Überzeugung und nicht mit Gewalt, was schlimmer wäre, als der Glaube dessen, den man überzeugen wollte. Gibt es überhaupt etwas, das zu gebieten erlaubt ist, so ist es das Gute und die Brüderlichkeit. Aber wir glauben nicht, dass das Mittel zu deren Bewirkung die Gewalt ist: Überzeugung lässt sich nicht erzwingen.“




842. Da alle Glaubensmeinungen der einzig richtige Ausdruck der Wahrheit zu sein beanspruchen, woran kann man dann diejenige erkennen, welche wirklich das Recht hat sich für jenen auszugeben?
„Es wird diejenige sein, welche die meisten rechtschaffenen Leute und die wenigsten Heuchler erzeugt, indem sie das Gebot der Liebe in seiner größten Reinheit und weitherzigs – ten Anwendung erfüllt. An diesem Zeichen werdet ihr erken – nen, ob eine Lehre gut sei oder nicht; denn jede Lehre, die zur Folge hätte, Zwietracht zu säen und eine Grenzlinie zu ziehen zwischen den Kindern Gottes, kann nur falsch und schädlich sein.“




Der freie Wille

843. Hat der Mensch freien Willen in seinem Tun und Lassen?
„Da er frei ist in seinem Denken, so ist er auch frei in sei – nem Handeln. Ohne freien Willen wäre der Mensch eine Maschine.“



844. Ist der Mensch von Geburt an im Besitz des freien Willens?
„Die Freiheit des Tuns erwacht gleichzeitig mit dem Willen etwas zu tun. In den ersten Lebensjahren ist die Freiheit so ziemlich gleich Null, sie entwickelt sich und wechselt ihren Gegenstand mit den Fähigkeiten. Das Kind das denkt, wie es die Bedürfnisse seines Alters mit sich bringen, richtet sei – nen freien Willen auf die Dinge, die ihm nötig sind.“



845. Sind nicht die instinktartigen Neigungen, die der Mensch mit sich auf die Welt bringt, ein Hindernis für die Ausübung des freien Willens?
„Die instinktartigen Neigungen sind diejenigen des Geistes vor seiner Inkarnation. Je nachdem er mehr oder weniger fortgeschritten ist, können sie ihn zu tadelnswertem Tun anreizen und er wird hierin von den Geistern unterstützt werden, die mit diesen Neigungen sympathisieren; unwiderstehlich ist aber diese Anreizung nicht, wenn man den Willen hat zum Widerstand. Erinnert euch: Wollen heißt Können.“ (361.)



846. Hat seine physische Veranlagung keinen Einfluss auf das Tun des Menschen und wenn ja, geschieht dies dann nicht auf Kosten des freien Willens?
„Gewiss wird der Geist vom Stoff beeinflusst, der ihn in seinen Äußerungen behindern kann. Darum entfalten sich auch auf den Welten, wo die Leiber weniger stofflich sind als auf der Erde, die Fähigkeiten mit größerer Freiheit. Nicht aber das Werkzeug verleiht die Fähigkeit. Übrigens muss hier zwischen intellektuellen und moralischen Fähigkeiten unterschieden werden: Wenn ein Mensch Neigung zum Mord hat, so ist es gewiss sein eigener Geist, der jene besitzt und sie ihm eingibt, und nicht seine Organe. Wer sein Denken vernichtet, um sich nur mit dem Stoff abzugeben, der wird dem Tier gleich und noch schlimmer, denn er denkt nicht mehr daran, sich gegen das Übel und das Böse zu schützen und darin eben liegt sein Fehler, in dem er so nach seinem Willen handelt.“ (Siehe: Frage 397 ff. ,,Der Einfluss des Organismus.“)



847. Nimmt die Beeinträchtigung der Fähigkeiten dem Menschen den freien Willen?
„Der, dessen Intelligenz aus irgendeiner Ursache gestört ist, ist nicht mehr Herr seines Denkens und hat von da an keine Freiheit mehr. Diese Beeinträchtigung ist oft eine Bestrafung des Geistes, der in einem anderen Dasein eitel und hochmütig gewesen sein und einen schlechten Gebrauch von seinen Fähigkeiten gemacht haben mag. Er kann in dem Leib eines geistig Behinderten wiedergeboren werden, wie der Despot in dem eines Sklaven und der schlechte Reiche in dem eines Bettlers. Der Geist aber leidet von diesem Zwang, dessen er sich vollkommen bewusst ist: Dies ist die Wirkung des Stoffes.“ (371.)



848. Entschuldigt die Beeinträchtigung der intellektuellen Fähigkeiten durch Trunkenheit die tadelnswerten Taten?
„Nein, denn der Trunkenbold beraubt sich freiwillig seiner Vernunft, um seinen rohen Leidenschaften zu frönen. Statt eines Fehlers begeht er deren zwei.“



849. Welche Fähigkeit herrscht beim Menschen im wilden Zustand vor: Der Instinkt oder der freie Wille?
„Der Instinkt, – was ihn aber nicht hindert, bei gewissen Dingen in völliger Freiheit zu handeln. Aber er wendet, wie das Kind, diese Freiheit auf seine Bedürfnisse an und sie entwickelt sich so mit seiner Intelligenz. Folglich bist du, der du aufgeklärter bist als ein Wilder, auch verantwortlicher für dein Tun.“



850. Ist nicht zuweilen die gesellschaftliche Stellung ein Hindernis für die volle Freiheit des Handelns?

„Die Welt hat ohne Zweifel ihre Ansprüche. Gott ist gerecht: Er trägt allem Rechnung, euch aber lässt er die Verantwortlichkeit für die geringe Anstrengung, die ihr zur Überwindung der Hindernisse macht.“




Verhängnis (Schicksal)

851. Gibt es in den Ereignissen des Lebens ein Verhängnis in dem, diesem Worte beigelegten Sinn, d.h. sind alle Ereignisse zum Voraus bestimmt und wo bleibt in diesem Fall der freie Wille?
„Das Verhängnis besteht nur in dem vom Geist bei seiner Inkarnation gefassten Entschluss, sich der und der Prüfung zu unterziehen. Indem er sie wählt, schafft er sich selbst eine Art von Schicksal, welches aber die unmittelbare Folge der Stellung ist, in der er sich eben befindet. Ich rede nur von den leiblichen Prüfungen; denn was die moralischen Prüfungen und die Versuchungen betrifft, so ist der Geist, der seinen freien Willen zum Guten wie zum Bösen behält, stets Herr über sein Nachgeben und seinen Widerstand. Ein guter Geist, der ihn schwach werden sieht, kann ihm zu Hilfe kommen, besitzt aber nicht die Macht, seinen Willen zu meistern. Ein böser, d.h. niedriger Geist kann, indem er ihm eine physische Gefahr zeigt oder sie übertreibt, ihn wankend machen und erschrecken, jedoch der Wille des inkarnierten Geistes bleibt nichts desto weniger frei von aller Behinderung.“



852. Es gibt Menschen, die ein Verhängnis, ganz unabhängig von dem, was sie tun mögen, zu verfolgen scheint, liegt solches Unglück nicht in ihrem Schicksal?
„Das sind vielleicht Prüfungen, denen sie sich unterziehen sollen und die sie selbst gewählt haben. Aber noch einmal: Ihr setzt dem Schicksal das auf die Rechnung, was meistenteils nur die Folge eures eigenen Fehlers ist. Mache, dass bei den dich betrübenden Übeln dein Gewissen rein sei und du bist schon zur Hälfte getröstet.“


Die richtigen oder falschen Vorstellungen, die wir uns von den Dingen machen, lassen uns, je nach unserem Charakter und unserer gesellschaftlichen Stellung siegen oder unterliegen. Wir finden es einfacher und für unsere Verhältnisse weniger demütigend, unsere Niederlagen dem Schicksal oder dem Verhängnis zu zuschreiben, als unseren eigenen Fehlern. Wenn der Einfluss der Geister zuweilen etwas dazu beiträgt, so können wir uns demselben stets dadurch entziehen, dass wir die von ihnen uns eingegebenen Gedanken, wenn sie schlecht sind, zurückweisen.




853. Gewisse Personen entgehen einer tödlichen Gefahr nur, um wieder in eine andere zu geraten. Es scheint, als hätten sie dem Tod nicht entrinnen können. Heißt das nicht Verhängnis?
„Vom Verhängnis bestimmt, im wahren Sinne des Wortes, ist nur der Augenblick des Todes. Wenn dieser Moment gekommen ist, sei er durch irgendwas herbeigeführt, so könnt ihr ihm euch nicht entziehen.“


853a. Es mag also die uns bedrohende Gefahr noch so groß sein, wir sterben nicht, wenn die Stunde nicht gekommen ist?
„Nein; du wirst nicht umkommen und davon hast du Tausende von Beispielen. Ist aber deine Stunde gekommen, wo du von dannen gehen sollst, so wird dich nichts derselben entreißen, Gott weiß es voraus, welchen Todes du von dannen gehen wirst und oft weiß es auch dein Geist, denn das wird ihm offenbart, wenn er seine Wahl für diese oder jene Existenz trifft.“



854. Folgt aus der Unfehlbarkeit der Todesstunde, dass die Maßregeln, die man zu seiner Vermeidung trifft, unnütz sind?

„Nein, denn diese Maßregeln werden euch eingegeben, damit ihr den euch bedrohenden Tod vermeidet: Sie sind eines der Mittel, dass er nicht stattfindet.“



855. Was bezweckt die Vorsehung damit, wenn sie uns Gefahren ent – gegenführt, die dann keine Folgen haben sollen?
„Wenn dein Leben in Gefahr kommt, so ist das eine, von dir selbst gewünschte Warnung, damit du dich vom Bösen abwendest und besser werdest. Entgehst du dieser Gefahr, so sinnst du, noch unter deren Eindruck und mit mehr oder weniger Energie – je nach dem mehr oder minder kräftigen Einfluss der guten Geister auf deine Besserung. Kommt aber der böse Geist über dich (ich sage böse, indem ich das Böse meine, das noch in ihm ist), so denkst du, du werdest anderen Gefahren ebenso entgehen und lässt deine Leidenschaften von neuem sich entfesseln. Mit den Gefahren, die euch bedrohen, erinnert euch Gott an eure Schwachheit und an die Gebrechlichkeit eures Daseins. Wenn man die Ursache und das Wesen der Gefahr näher prüft, so wird man finden, dass ihre Folgen meistenteils die Bestrafung eines begangenen Fehlers oder einer versäumten Pflicht gewesen wären. Gott mahnt euch, Einkehr in euch selbst zu halten und euch zu bessern.“ (526. bis 532.)



856. Kennt der Geist die Todesart, der er unterliegen soll, zum Voraus?
„Er weiß, dass das von ihm gewählte Leben ihn eher dieser oder jener Todesart aussetzt. Er kennt aber ebenso die Kämpfe, die er, um sie zu vermeiden, zu bestehen haben wird und weiß, dass er, wenn Gott es gestattet, nicht unterliegen wird.“



857. Es gibt Menschen, welche den Gefahren einer Schlacht in der Überzeugung die Stirn bieten, dass ihre Stunde noch nicht gekommen sei. Liegt in diesem Vertrauen etwas Wahres und Begründetes?
„Sehr oft hat der Mensch eine Vorahnung seines Toddes, so wie er zuweilen auch vorausfühlt, dass er nicht sterben werde. Dieses Vorgefühl kommt ihm von seinen Schutzgeistern, die ihn warnen wollen, sich zu seinem Hingang bereit zu halten, oder die seinen Mut erhöhen in den Augenblicken, wo er desselben am meisten bedarf. Es kann ihm auch aus der vagen Anschauung der von ihm einst gewählten Existenz, oder von der von ihm übernommenen Sendung aufsteigen, von der er weiß, dass er sie erst erfüllen muss.“ (411. bis 522.)



858. Woher kommt es, dass die, welche ihren Tod vorausahnen, ihn in der Regel weniger fürchten, als die anderen?
„Den Tod fürchtet der Mensch, nicht der Geist. Wer den Tod vorausahnt, denkt mehr als Geist, denn als Mensch: Er erkennt seine Befreiung und wartet ab.“



859. Wenn der Tod nicht vermieden werden kann, wann er stattfinden soll, verhält es sich dann auch ebenso mit allen Unglücksfällen, die uns in unserem Lebenslauf zustoßen?
„Das sind oft Dinge, die geringschätzig genug sind, dass wir euch davor warnen und sie euch zuweilen vermeiden lassen können, indem wir eure Gedanken lenken; denn wir lieben nicht das leibliche Leiden. Das ist aber für das Leben, das ihr gewählt habt, von geringem Belang. Das wahre und wirkliche Verhängnis hingegen bezieht sich nur auf die Stunde, wo ihr hier auf Erden erscheinen und verschwinden sollt.“


859a. Gibt es Tatsachen, die mit Notwendigkeit eintreten müssen und welche der Wille der Geister nicht beschwören kann?
„Ja, welche du aber in deinem Zustand als Geist gesehen und geahnt hattest, als du deine Wahl trafest. Glaube indessen nicht, dass alles, was sich ereignet, geschrieben steht, wie man zu sagen pflegt. Ein Ereignis ist oft die Folge von etwas, das du Kraft deines freien Willens tatest, so dass, wenn du jenes nicht getan hättest, auch dieses nicht sich ereignet hätte. Wenn du dir den Finger verbrennst, so hat das nicht viel zu bedeuten; es war die Folge deiner Unvorsichtigkeit und davon, dass du ein leibliches Wesen bist. Von Gott vorausgesehen, weil sie zu deiner Reinigung und Belehrung dienen, sind nur die großen Schmerzen und die wichtigen Ereignisse, die auf das Moralische einwirken.“



860. Kann der Mensch dank seines Willens und seines Tuns bewirken, dass Ereignisse, welche stattfinden sollten, nicht eintreten und umgekehrt?
„Er kann es, wenn diese anscheinende Abweichung in den Rahmen des von ihm gewählten Lebens sich einfügen lässt. Sodann kann er auch, um Gutes zu tun, wie das sein soll und wie es der einzige Zweck des Lebens ist, das Böse vermeiden, besonders das, welches zu einem noch größeren Übel beitragen könnte.“



861. Weiß der Mensch, der einen Mord begeht, bei der Wahl seines Daseins, dass er ein Mörder werden wird?
,,Nein. Er weiß, dass, wenn er ein Leben voll Kämpfe wählt, für ihn die Möglichkeit gegeben ist, einen seinesgleichen zu töten, aber er weiß nicht, ob er es tun wird, denn es findet fast immer eine Überlegung statt, bevor ein Verbrechen begangen wird. Nun ist aber der, welcher etwas in Überlegung zieht, immer frei es zu tun oder nicht zu tun. Wüsste der Geist voraus, dass er als Mensch einen Mord begehen solle, so wäre er zum Voraus zu demselben bestimmt. Wisset also, dass niemand zu einem Verbrechen prädestiniert und dass jedes Verbrechen und überhaupt jede Handlung stets die Tat eines freien Willens ist. Übrigens verwechselt ihr immer zwei durchaus verschiedene Dinge: die materiellen Ereignisse des Lebens und die Handlungen des moralischen Lebens. Wenn zuweilen ein Verhängnis eintritt, so liegt das in den materiellen Ereignissen, deren Ursache außer euch liegt und die nicht von eurem Willen abhängen. Die Handlungen des moralischen Lebens dagegen gehen stets vom Menschen selbst aus, der also hier immer die Wahlfreiheit ausübt: Für diese Handlungen gibt es somit nie ein Verhängnis.“



862. Es gibt Leute, denen nie etwas gelingt und die ein böser Geist in allem was sie unternehmen zu verfolgen scheint; darf man nun nicht eben dies ein Verhängnis nennen?
„Wohl ist dies ein Verhängnis, wenn du es so nennen willst, aber dasselbe beruht auf der Wahl der Existenz, weil diese Menschen durch ein Leben der Enttäuschung geprüft werden wollten, um ihre Geduld und Ergebung zu üben. Glaube aber nicht, dass dies Verhängnis ein unbedingtes sei: Oft ist es die Folge des falschen Weges, den sie einschlugen und der nicht im richtigen Verhältnis zu ihrer Intelligenz und ihren Kräften stand. Wer über einen Fluss setzen will ohne schwimmen zu können, wird sehr wahrscheinlich ertrinken und so ist es mit den meisten Ereignissen des Lebens. Wenn der Mensch nur solches unternähme, das im richtigen Verhältnis zu seinen Fähigkeiten stände, so würde ihm fast alles gelingen. Was ihn ins Verderben stürzt, ist seine Eigenliebe und sein Ehrgeiz, welche ihn vom rechten Weg abbringen und den Wunsch, gewisse Leidenschaften zu befriedigen, als seinen Beruf betrachten lassen. Er geht dann fehl und das ist sein Fehler. Statt sich aber selbst zu verurteilen, gibt er seinem schlechten Stern Schuld. Manch einer wäre ein guter Handwerker geworden und hätte sich ehrlich sein Leben verdient, anstatt als ein schlechter Dichter des Hungers zu sterben. Es wäre Raum für alle, wenn jeder sich an die rechte Stelle zu setzen wüsste.“



863. Nötigen die gesellschaftlichen Sitten nicht oft einen Menschen, diesen Weg eher als jenen einzuschlagen und ist er nicht dem Für und Gegen seiner Mitmenschen ausgesetzt bei der Wahl seiner Beschäftigung? Ist das, was die Achtung der Menschen nennt, nicht oft ein Hindernis für die Ausübung des freien Willens?
„Die Menschen machen die gesellschaftlichen Sitten und nicht Gott. Unterwerfen sie sich denselben, so tun sie es, weil es ihnen so beliebt und das ist eben ein Akt des freien Willens. Da sie es wollten, so hätten sie es auch nicht wollen können: Warum also dann sich beklagen? Nicht die gesellschaftlichen Sitten sollen sie anklagen, sondern ihre dumme Eigenliebe, die sie lieber Hungers sterben, als auf den richtigen Weg einlenken lässt. Kein Mensch dankt ihnen für dieses, der allgemeinen Meinung gebrachte Opfer, während Gott ihnen für das Opfer ihrer Eitelkeit Rechnung tragen wird. Es soll damit nicht gesagt werden, dass man jene Meinung ohne Not herausfordern solle wie gewisse Leute tun, die mehr Originalität als wahre Philosophie besitzen. Es ist ebenso verkehrt mit den Fingern auf sich zeigen oder sich als ein merkwürdiges Tier anschauen zu lassen, als es weise ist, freiwillig und ohne Murren herabzusteigen, wenn man sich nicht auf der Höhe der Leiter zu behaupten vermag.“




864. Wenn es Leute gibt, die das Schicksal wider sich haben, so erscheinen andere von demselben begünstigt, denn alles gelingt ihnen. Woran liegt dies?
„Oft daran, dass sie sich besser zu benehmen wissen. Es kann auch eine Art von Prüfung sein. Der Erfolg berauscht sie, sie vertrauen ihrem Geschick und oft bezahlen sie diese nämlichen Erfolge mit peinvollen Unglücksfällen, die sie hätten vermeiden können, wenn sie klüger gewesen wären.“



865. Wie kann man sich das Glück erklären, das gewisse Personen bei Umständen haben, mit denen weder der Wille noch die Intelligenz etwas zu tun haben, beim Spiel z. B.?
„Gewisse Geister wählten zum Voraus gewisse Vergnügungen und der Zufall, der sie begünstigt, ist eine Prüfung. Wer als Mensch gewinnt, verliert als Geist. Dies ist eine Prüfung für seinen Hochmut und seine Begehrlichkeit.“



866. So wäre denn das Verhängnis, das die äußeren Ereignisse unseres Lebens leitet, wiederum die Wirkung unseres freien Willens?
„Du wähltest deine Prüfung selbst: Je strenger sie ist und je besser du sie bestehst, desto höher erhebst du dich. Die, welche ihr Leben im menschlichen Glück und Überfluss hinbringen, sind feige Geister, die nicht vorwärtskommen. So übersteigt die Zahl der Unglücklichen weit die der Glücklichen dieser Erde, weil die Geister ihrer Mehrzahl nach die Prüfungen aufsuchen, die ihnen die fruchtbringendsten sein werden. Sie erkennen zu wohl die Nichtigkeit eurer Herrlichkeiten und Genüsse. Übrigens ist selbst das glücklichste Leben immer bewegt und getrübt und wäre es auch nur wegen der Abwesenheit des Schmerzes.“ (525 ff.)




867. Woher kommt der Ausdruck „Unter einem glücklichen Stern geboren sein“?
„Ein alter Aberglaube, der die Sterne mit dem Geschick der Menschen in Zusammenhang brachte, ein bildlicher Ausdruck den gewisse Leute dumm genug sind buchstäblich zu nehmen.“




Wissen von der Zukunft

868. Kann die Zukunft dem Menschen enthüllt werden?
„Prinzipiell bleibt ihm die Zukunft verborgen und nur in seltenen Ausnahmefällen gestattet Gott deren Enthüllung.“



869. Zu welchem Zweck bleibt die Zukunft dem Menschen verborgen?
„Wenn der Mensch die Zukunft wüsste, so würde er die Gegenwart vernachlässigen und nicht mit derselben Freiheit handeln, denn er würde von dem Gedanken beherrscht werden, dass, wenn etwas geschehen soll, er sich nicht weiter darum zu bekümmern habe, oder er würde es zu verhindern suchen. Gott wollte es nicht so haben, damit jeder zur Erfüllung der Dinge beitrage, selbst derjenigen, denen er sich widersetzen würde; so bereitest du selbst oft, ohne es zu ahnen, die Ereignisse vor, die in deinem Lebenslauf eintreten werden.



870. Da es nützlich ist, dass die Zukunft verborgen bleibe, warum gestattet dann Gott zuweilen deren Enthüllung?
„Das geschieht dann, wenn ein solches Vorauswissen die Ausführung der betreffenden Angelegenheit erleichtern, statt hindern soll, indem der Mensch dadurch veranlasst wird anders zu handeln als er es sonst getan hätte. Und dann ist es oft auch eine Prüfung. Die Voraussicht eines Ereignisses kann mehr oder weniger gute Gedanken erwecken. Wenn z. B. ein Mensch vorausweiß, dass er eine Erbschaft machen wird, auf die er nicht rechnete, so kann er von Gefühlen der Begehrlichkeit, von der Freude über die Vermehrung seiner irdischen Genüsse, von dem Wunsch, schneller in deren Besitz zu gelangen, ja von dem Wunsch, der Betreffende möchte recht bald sterben, bewegt werden; oder aber jene Aussicht wird in ihm gute Gefühle und edelmütige Gedanken erwecken. Erfüllt sich das Vorhergesagte nicht, so ist dies wieder eine andere Prüfung: Nämlich auf welche Weise er die Enttäuschung aufnehmen werde. Er wird deswegen aber nicht minder das Verdienst oder die Schuld seiner guten oder schlechten Gedanken tragen, die er bei seinem Glauben an das Ereignis in sich nährte.“




871. Da Gott alles weiß, so weiß er auch, ob ein Mensch in einer Prüfung unterliegen wird, oder nicht. Worin liegt dann aber die Notwendigkeit dieser Prüfung, da ja Gott nichts lehren kann, was er nicht schon von diesem Menschen wüsste?
„Du könntest ebenso gut fragen, warum Gott den Menschen nicht vollendet und vollkommen geschaffen habe (119.), warum der Mensch die Kindheit durchläuft, bevor er ein Erwachsener wird (379.). Die Prüfung hat nicht zu ihrem Zweck, Gott über das Verdienst dieses Menschen aufzuklären, denn Gott weiß vollkommen, was derselbe wert ist, – sondern dem Menschen die volle Verantwortlichkeit für sein Tun zu lassen, da er frei ist, es wirklich zu tun oder es zu lassen. Da der Mensch zwischen dem Guten und Bösen die Wahl hat, so hat die Prüfung die Wirkung, dass er der Versuchung ausgesetzt wird, so dass ihm, wenn er ihr widersteht, das Verdienst ganz allein gehört. So kann also Gott, obwohl er sehr wohl voraus erkennt, ob er siegen wird oder nicht, in seiner Gerechtigkeit ihn weder bestrafen noch belohnen für eine Handlung die nicht ausgeführt ward.“ (258.)


So ist es auch unter den Menschen. So fähig auch ein Bewerber, so gewiss man auch seines Erfolgs sei, man gibt ihm keine Stelle ohne Examen, d.h. ohne Prüfung. Ebenso verurteilt ein Richter den Angeklagten nur wegen einer vollbrachten Tat und nicht auf die bloße Vermutung oder Voraussicht hin, dass er sie vollbringen könne oder werde. Je mehr man über die Folgen nachdenkt, die für den Menschen aus seinem Wissen von der Zukunft entstehen müssten, desto mehr sieht man, wie weise die Vorsehung war, sie ihm zu verbergen. Die Gewissheit eines glücklichen Ereignisses würde ihn in Tatenlosigkeit versetzen, die Gewissheit eines unglücklichen ihn entmutigen. In beiden Fällen würde seine Kraft geschwächt. Darum wird die Zukunft dem Menschen nur als ein Ziel gezeigt, das er durch seine Anstrengungen erreichen soll, ohne dass er jedoch die Reihe der Dinge vorauswissen darf, welche er durch – zumachen hat, um es zu erreichen. Die Kenntnis aller Vorfälle seines Weges beraubte ihn seiner Initiative und des Gebrauchs seines freien Willens, er ließe sich an den verhängnisvollen Abgrund der Ereignisse reißen, ohne seine Widerstandskraft zu gebrauchen. Wenn der Erfolg von etwas gesichert ist, so kümmert man sich nicht weiter darum.




Theoretischer Rückblick auf die Triebfedern der menschlichen Handlungen.

872. Die Frage nach dem freien Willen lässt sich auf folgendes zurückführen. Der Mensch wird nicht wegen eines Verhängnisses zum Bösen geführt, die von ihm vollbrachten Taten stehen nicht zum Voraus geschrieben, die Verbrechen die er begeht, sind nicht die Folge eines Schicksalsspruches. Er kann als Prüfung und Sühne ein Dasein wählen, in welchem ihm die Lockungen zum Verbrechen, sei es durch seine Umgebung oder durch auftauchende Umstände entgegentreten, aber er ist immer frei zu handeln oder nicht zu handeln. So besteht der freie Wille im Zustand des Geistes in der Wahl des Daseins und der Prüfungen und im leiblichen Zustand in der Fähigkeit, den Versuchungen, denen wir uns dort freiwillig unterzogen haben, nachzugeben oder zu widerstehen. An der Erziehung ist es, diese schlechten Neigungen zu bekämpfen. Sie wird es mit Erfolg tun, wenn sie sich auf ein tieferes Verständnis der moralischen Natur des Menschen stützt. Durch die Kenntnis der Gesetze die diese moralische Natur bestimmen, wird man zur Umwandlung dieser letzteren gelangen, so wie man die Intelligenz durch Unterricht, das Temperament durch Gesundheitslehre umwandelt.


Der vom Stoff befreite wandernde Geist wählt sich seine künftigen leiblichen Daseinsformen je nach seinem Grad der Vervollkommnung und hierin besonders liegt, wie gesagt, sein freier Wille. Diese Freiheit wird keineswegs durch die Inkarnation vernichtet: Gibt er dem Einfluss des Stoffes nach, so geschieht dies, weil er eben jenen Prüfungen, die er frei wählte, unterliegt, und eben um sich Hilfe zu verschaffen zu deren Überwindung, kann er den Beistand Gottes und der guten Geister anrufen. (337.)


Ohne freien Willen hat der Mensch weder Unrecht im Bösen noch Verdienst im Guten. Dies ist so allgemein anerkannt, dass in der Welt Lob und Tadel stets an der Absicht, d.h. am Willen gemessen werden. Wer aber Willen sagt, der sagt Freiheit. Der Mensch könnte so mit keine Entschuldigung seiner Missetaten in seiner Veranlagung finden, ohne seine Vernunft und seine menschliche Natur von sich zu werfen, um sich dem Tier gleich zu stellen. Verhielte es sich so mit dem Bösen, so verhielte es sich ebenso mit dem Guten. Tut aber der Mensch etwas Gutes, so ist ihm gar sehr daran gelegen sich ein Verdienst daraus zu machen und er hütet sich wohl, seinen Organen dafür zu danken. Dies beweist, dass er instinktmäßig und trotz der Ansicht einiger Systemmacher nicht auf das schönste Vorrecht seiner Gattung verzichtet: auf die Denkfreiheit.


Das Verhängnis, wie man das Wort gewöhnlich versteht, setzt voraus, dass alle Ereignisse des Lebens, welche auch ihre Wichtigkeit sei, zum Voraus und in unwiderruflicher Weise entschieden seien. Wäre dies die Weltordnung, so wäre der Mensch eine willenlose Maschine. Wozu diente ihm dann noch seine Intelligenz, da er in allen intimen Handlungen unabänderlich von der Macht des Schicksals beherrscht würde? Eine solche Lehre würde, wenn sie wahr wäre, die Aufhebung jeder sittlichen Freiheit sein. Für den Menschen gäbe es keine Verantwortlichkeit mehr und folglich weder Gutes noch Böses, weder Verbrechen noch Tugend. Der allgerechte Gott könnte sein Geschöpf weder für Fehler züchtigen, deren Begehen nicht von ihm abhing, noch für Tugenden belohnen, deren Verdienst ihm nicht zukäme. Eine solche Ordnung der Dinge wäre außerdem eine Verneinung des Gesetzes des Fortschritts; denn der Mensch, der alles vom Schicksal erwartete, täte nichts zur Verbesserung seiner Lage, da er ja doch nichts damit ausrichtete. Demnach ist das Verhängnis kein leeres Wort. Es besteht in der Stellung, die der Mensch auf Erden einnimmt und in den Aufgaben, die für ihn aus derselben erwachsen, welches beides die Folge der Daseinsform ist, die sich sein Geist einst wählte – als Prüfung, Sühne oder Mission. Nach diesem Verhängnis hat er alle Wechselfälle dieses Daseins neu zu bestehen, so wie alle darinliegenden guten oder schlechten Neigungen. Hier aber hört das Verhängnis auf, denn von seinem Willen hängt es ab, diesen Neigungen nachzugeben oder zu widerstehen. Die einzelnen Ereignisse richten sich nach den Umständen, die er selbst durch seine Handlungen veranlasst hat und auf welche die Geister durch die Gedanken, die sie ihm eingeben, Einfluss üben können. (459.)


Das Verhängnis liegt also in den sich einstellenden Ereignissen, da sie die Folge der vom Geist gewählten Daseinsform sind. Es kann nicht in dem Ergebnis jener Ereignisse liegen, da es in der Macht des Menschen liegt, durch seine Klugheit ihren Lauf zu verändern: Es liegt nie in den Handlungen des sittlichen Lebens.


Beim Tod ist der Mensch dem unerbittlichen Gesetz des Verhängnisses unbedingt unterworfen; denn er kann weder dem Beschluss, der seinem Dasein ein Ziel setzt, noch der Todesart, die seinen Lebensfaden abschneiden soll, entfliehen. Nach der gewöhnlichen Annahme würde der Mensch alle seine Triebe aus sich selbst schöpfen, dieselben gingen teils aus seiner physischen Veranlagung, für die er nicht verantwortlich sein kann, teils aus seiner eigenen Natur hervor, in der er eine Entschuldigung in seinen eigenen Augen suchen könnte, da er ja nichts dafür könne, dass er so geschaffen worden war. Die spiritistische Lehre ist augenscheinlich viel moralischer: Sie räumt dem Menschen den freien Willen im vollen Maße ein und wenn sie ihm sagt, dass er, wenn er Böses tue, einer fremden bösen Eingebung folge, so belässt sie ihm die ganze Verantwortlichkeit dafür, indem sie ihm die Macht zu widerstehen zuerkennt, was offenbar viel leichter ist, als wenn er gegen seine eigene Natur zu kämpfen hätte. Nach der spiritistischen Lehre wird also der Mensch nicht in unwiderstehlicher Weise hingerissen: Er kann immer der geheimen Stimme, die ihn in seinem Innersten anreizt, sein Ohr verschließen, so gut als er es gegenüber einem laut zu ihm Sprechenden tun kann. Er kann dies dank seines freien Willens, indem er Gott um die nötige Kraft bittet und zu diesem Zweck den Beistand der guten Geister anruft. Das lehrt uns Jesus in dem erhabenen Gebet des Vater Unser, wenn er uns bitten lässt: ,,Überlasse uns nicht der Versuchung, sondern erlöse uns von dem Übel " *



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* Im französischen Original steht: „Ne nous laissez pas succomber à la tentation, mais délivrez – nous du mal.“ (Anmerkung der Übersetzer)





Diese Lehre von der veranlassenden Ursache unserer Handlungen geht augenscheinlich aus allen Belehrungen durch die Geister hervor. Sie ist nicht nur erhaben in ihrer Moral sondern wir fügen hinzu, dass sie den Menschen in seinen eigenen Augen erhöht: Sie zeigt ihm in seiner Freiheit nur ein ihn niederdrückendes Joch abzuschütteln, so wie er frei ist, sein Haus ungebetenen Gästen zu verschließen. Er ist nicht mehr eine, auf fremden Antrieb sich bewegende willenlose Maschine, sondern ein vernünftiges Wesen, das frei anhört, urteilt und zwischen zwei Ratschlägen sich entscheidet. Fügen wir dann noch hinzu, dass der Mensch nicht seiner Initiative eines unmittelbar aus ihm selbst geschöpften Entschlusses beraubt ist. Er handelt deswegen nicht minder aus eigenem Antrieb, wenn er schließlich doch nur ein inkarnierter Geist ist, der unter seiner leiblichen Hülle die guten und schlimmen Eigenschaften beibehält, die er als Geist besessen hat. Unsere Fehler haben also ihre erste Quelle in der Unvollkommenheit unseres eigenen Geistes, der die sittliche Höhe die er einst sich erringen wird, noch nicht erreicht hat, der aber deswegen doch seine Willenskraft besitzt. Das leibliche Leben wird ihm gegeben, um sich durch dessen Prüfungen von seinen Unvollkommenheiten zu reinigen, und gerade jene Unvollkommenheiten schwächen ihn und machen ihn den Einflüsterungen der anderen unvollkommenen Geister zugänglicher, indem diese dieselben dazu benutzen, ihn in dem unternommenen Kampf unterliegen zu lassen. Geht er als Sieger aus letzterem hervor, so erhöht er sich: unterliegt er, so bleibt er, was er war, weder schlechter noch besser: die Prüfung beginnt von neuem und das kann lange so fortgehen. Je mehr er sich reinigt, desto mehr vermindern sich seine schwachen Seiten und desto weniger Blößen gibt er sich gegenüber denen, die ihn zum Bösen reizen. Seine sittliche Kraft wächst im Verhältnis seiner Selbsterhöhung und die bösen Geister entfernen sich.


Alle mehr oder weniger guten Geister bilden, wenn sie inkarniert sind, das Menschengeschlecht und da unsere Erde eine der am wenigsten fortgeschrittenen Welten ist, so gibt es hier mehr böse als gute Geister: Darum sehen wir hier so viel Verdorbenheit. Raffen wir daher all unsere Kraft zusammen, dass wir nicht auf diese Station zurückkehren müssen und dass wir es verdienen, uns auf einer besseren Welt ausruhen zu dürfen, auf einer jener bevorzugten Welten, wo ungeteilt das Gute herrscht und wo wir uns unserer Pilgerfahrt hier auf Erden nur noch als einer Zeit der Verbannung erinnern werden.





KAPITEL XI – X. Das Gesetz der Gerechtigkeit, der Liebe und der Nächstenliebe



Natürliche Gerechtigkeit und natürliche Rechte

873. Liegt das Gefühl der Gerechtigkeit in der Natur oder ist es die Folge erworbener Ideen?
„Es liegt so sehr in eurer Natur, dass ihr euch beim Gedanken einer Ungerechtigkeit empört. Der sittliche Fortschritt entwickelt ohne Zweifel dieses Gefühl, aber er verleiht es nicht. Gott legte es in des Menschen Herz: Darum findet ihr oft bei einfachen und ursprünglichen Menschen reinere Anschauungen von der Gerechtigkeit als bei denen, die viel Wissen besitzen.“


874. Wenn die Gerechtigkeit ein Naturgesetz ist, wie kommt es dann, dass sie die Menschen so verschieden verstehen und dass der eine gerecht findet, was dem anderen ungerecht erscheint?
„Weil sich oft Leidenschaften hinein mischen, die dieses Gefühl wie die meisten anderen natürlichen Gefühle verunreinigen und entstellen und die Dinge unter einem falschen Gesichtspunkt erscheinen lassen.“



875. Wie lässt sich die Gerechtigkeit definieren?
„Die Gerechtigkeit ist die Achtung vor den Rechten eines jeden Menschen.“


875a. Wodurch werden diese Rechte begründet?
„Durch zwei Dinge: durch das menschliche Gesetz und durch das natürliche Gesetz. Indem die Menschen Gesetze erließen, die ihren Sitten und ihrem Charakter entsprachen, so begründeten dieselben Rechte, die mit dem Fortschritt der Bildung sich ändern konnten. Seht, ob eure heutigen Gesetze, ohne deswegen vollkommen zu sein, die gleichen Rechte begründen, wie im Mittelalter. Jene veralteten Rechte, die euch jetzt ungeheuerlich vorkommen, erschienen zu jener Zeit als gerecht und natürlich. Das von den Menschen eingeführte Recht entspricht also der Gerechtigkeit nicht immer. Übrigens ordnet und bestimmt es nur gewisse gesellschaftliche Verhältnisse, während es im Privatleben eine Menge von Handlungen gibt, die nur vor den Richterstuhl des Gewissens gehören.“



876. Welches ist außerhalb des durch das menschliche Gesetz begründeten Rechts, die Grundlage der auf dem Naturgesetz beruhenden Gerechtigkeit?
„Christus sagte es euch: Für die anderen das zu wollen, was ihr für euch selbst wollen würdet. Gott legte in des Menschen Herz die Regel für jede wahre Gerechtigkeit, mit dem in einem jeden lebenden Wunsch, seine Rechte geachtet zu sehen. Der Mensch braucht sich, wenn er ungewiss ist, was er unter gegebenen Umständen einem anderen gegenüber zu tun habe, nur zu fragen, wie er möchte, dass man ihm gegenüber unter ähnlichen Umständen handelte: Gott konnte ihm keinen sichereren Führer geben, als sein eigenes Gewissen.“


Das Kennzeichen einer wahren Gerechtigkeit liegt wirklich darin, für die anderen das zu wollen, was man für sich selbst wollen würde, nicht aber das für sich selbst zu wollen, was man für die anderen wollte, – was keineswegs das Gleiche bedeutet. Da es nicht natürlich ist, für sich selbst Übles zu wollen, wenn man den eigenen persönlichen Wunsch zum Vorbild oder Ausgangspunkt nimmt, so ist man sicher für seinen Nächsten niemals etwas anderes als etwas Gutes zu wünschen. Zu jeder Zeit und bei jedem Glauben suchte der Mensch stets sein persönliches Recht zur Geltung zu bringen: Das Erhabene der christlichen Religion besteht darin, dass sie das persönliche Recht zur Grundlage des Rechts des Nächsten macht.



877. Führt die Notwendigkeit in Gesellschaft zu leben für den Menschen besondere Verpflichtungen herbei?
„Ja, und die erste von allen ist: Die Rechte von seinesgleichen zu achten. Wer dies tut, wird stets gerecht sein. Auf eurer Welt, wo so viele Menschen das Gesetz der Gerechtigkeit nicht erfüllen, übt jeder Wiedervergeltung und daher kommt denn Verwirrung in eure Gesellschaft. Das Leben in Gesellschaft begründet gegenseitige Rechte und Pflichten.“



878. Da sich der Mensch über den Umfang seines Rechtes täuschen kann, wer kann ihm dann dessen Grenzen beibringen?
„Die Grenze des Rechts, die er seinem Nächsten gegenüber unter den gleichen Umständen zu erkennt, und umgekehrt.“



878a. Wenn sich aber ein jeder die Rechte seines Nächsten zuschreibt, was wird dann aus der Unterordnung gegenüber dem Vorgesetzten? Ist dies dann nicht die unbeschränkte Gesetzlosigkeit?
„Die natürlichen Rechte sind für alle dieselben vom Kleinsten bis zum Größten. Gott schuf nicht die einen aus einem reineren Stoff als die anderen und alle sind vor ihm gleich. Diese Rechte sind ewig; die, welche der Mensch aufstellte, gehen mit seinen Einrichtungen zugrunde. Übrigens kennt ein jeder gar wohl seine Stärke oder seine Schwäche und wird stets eine gewisse Willfährigkeit gegen den zeigen, der dies durch seine Tugend und Weisheit verdient. Es ist von Wichtigkeit, dies festzustellen, damit die, welche sich für höher halten, ihre Pflichten wahrnehmen, um jene Willfährigkeit zu verdienen. Die Unterordnung wird nicht gefährdet werden, wenn der Weisheit die Autorität zu erkannt wird.“




879. Welches wäre der Charakter desjenigen, der die Gerechtigkeit in ihrer ganzen Reinheit ausübte?
„Der echte Gerechte lebt nach dem Beispiel Jesu; denn er würde auch die Liebe gegen Gott und den Nächsten üben, ohne die es keine wahre Gerechtigkeit gibt.“




Eigentumsrecht. Diebstahl.

880. Welches ist das Erste aller natürlichen Rechte des Menschen?
„Das Recht zu Leben; darum hat keiner das Recht, das Leben von seinesgleichen anzugreifen, noch etwas zu tun, das seine leibliche Existenz gefährden könnte.“


881. Gibt das Recht zu Leben dem Menschen auch das Recht, sich soviel zu sammeln, dass er sich zur Ruhe setzen kann, wenn er nicht mehr arbeiten kann?
„Ja, aber er soll es tun mit seiner Familie, wie die Biene, mit ehrbarer Arbeit und soll nicht gleich einem Egoisten alles zusammenraffen wollen. Selbst gewisse Tiere geben ihm das Beispiel der Voraussicht.“



882. Hat der Mensch das Recht, das zu verteidigen, was er sich gesammelt hat?
„Hat Gott nicht gesagt: Du sollst nicht stehlen, und Jesus: Man soll dem Kaiser geben, was des Kaisers ist?“


Was der Mensch sich in ehrlicher Arbeit sammelt, ist sein gesetzmäßiges Eigentum, das er zu verteidigen berechtigt ist; denn das Eigentum ist, als Frucht der Arbeit, ein ebenso geheiligtes, natürliches Recht wie dasjenige, zu arbeiten und zu leben.



883. Liegt die Neigung zu besitzen in der Natur?
„Ja, aber wenn du nur um deiner selbst und zu deiner persönlichen Befriedigung besitzen willst, so ist dies Egoismus.“


883a. Ist aber der Wunsch nach Besitz nicht auch ein berechtigter, da ja der, welcher zu leben hat, niemandem zur Last fällt?
„Es gibt unersättliche Menschen, die ohne zu irgendjemands Nutzen oder zur Befriedigung ihrer Leidenschaften alles zusammenraffen. Meinst du, das werde von Gott, gutgeheissen? Derjenige hingegen, der sich mit seiner Arbeit Schätze sammelt, um einst Seinesgleichen zu helfen, übt das Gesetz der Liebe zu Gott und seinem Nächsten und Gott segnet seine Arbeit.“




884. Worin besteht das Wesen des rechtmäßigen Eigentums?
„Es gibt kein rechtmäßiges Eigentum, als das, welches ohne Nachteil für andere erworben wird.“ (808.)


Das Gesetz der Liebe und der Gerechtigkeit verbietet einem anderen das zu tun, was wir uns von anderen nicht getan zu sehen wünschten, und verdammt eben damit jedes Erwerbsmittel, das diesem Gesetz widerspräche.



885. Ist das Eigentumsrecht ein unbeschränktes?
„Ohne Zweifel ist alles rechtmäßig Erworbene ein Eigentum. Da jedoch, wie gesagt, die menschliche Gesetzgebung eine unvollkommene ist, so schafft sie oft Rechte des Herkommens, die von der natürlichen Gerechtigkeit verurteilt werden. Darum verbessern die Menschen ihre Gesetze in dem Maße, als der Fortschritt sich erfüllt und sie die Gerechtigkeit besser verstehen. Was in einem Jahrhundert als vollkommen erscheint, erscheint im Folgenden als barbarisch.“ (795.)




Nächstenliebe

886. Was ist der wahre Sinn des Wortes: `Nächstenliebe´, wie Jesus es verstand?
„Wohlwollen gegen jedermann, Nachsicht gegen die Unvollkommenheiten anderer, Verzeihung der Beleidigungen.“


Nächstenliebe ist die Ergänzung des Gesetzes der Gerechtigkeit; denn seinen Nächsten lieben heißt, ihm alles Gute erweisen, das in unserer Macht liegt und das wir uns selbst getan wünschten. Das ist der Sinn der Worte Jesus: Liebet einander wie Brüder.


Die Ausübung der Nächstenliebe bleibt nach Jesus nicht auf die Almosen beschränkt: Sie umfasst alle unsere Beziehungen zu unse – resgleichen, mögen sie unter uns, neben uns oder über uns stehen. Sie gebietet uns Nachsicht, weil wir derselben selbst bedürfen; sie verbietet uns, die Unglücklichen zu demütigen was im Gegensatz zu dem steht, was nur zu oft geschieht. Kommt ein Reicher daher, so hat man gegen ihn tausend Rücksichten, tausend Zuvorkommenheiten; kommt dagegen ein Armer, so meint man, sich mit ihm nicht zu genieren zu brauchen. Aber gerade je mehr seine Lage zu beklagen ist, desto mehr soll man im Gegenteil sich hüten, sein Unglück durch Demütigungen zu vermehren. Der wahrhaft und wirklich gute Mensch sucht den tiefer als er Stehenden in dessen eigenen Augen aufzurichten und zu erhöhen, indem er die Kluft zwischen ihnen beiden verkleinert.



887. Jesus sagte auch: Liebet selbst eure Feinde. Widerspricht nun aber die Feindesliebe nicht unseren natürlichen Neigungen und kommt die Feindschaft nicht vom Mangel an Sympathie zwischen den Geistern?
„Ohne Zweifel kann man zu einem Feinde keine zärtliche und leidenschaftliche Liebe hegen. Das wollte er auch nicht sagen. Seine Feinde lieben, heißt ihnen verzeihen und Böses mit Gutem vergelten. Dadurch stellt man sich über sie, durch Rache aber stellt man sich unter sie.“



888. Was ist von den Almosen zu halten?
„Der Mensch, der sich darauf angewiesen sieht, um Almosen zu bitten, erniedrigt sich physisch und moralisch. Er verroht. In einer, auf das Gesetz Gottes und der Gerechtigkeit gegründeten Gesellschaft soll für das Leben des Schwachen ohne Erniedrigung und Demütigung für ihn gesorgt sein. Sie soll das Dasein derer, die nicht arbeiten können, sichern, ohne deren Leben dem Zufall und dem guten Willen Preis zu geben.“


888a. Tadelt ihr das Almosen geben?
„Nein, nicht das ist tadelnswert, sondern oft die Art, wie es gegeben wird. Der brave Mann, der die Nächstenliebe in Jesu Sinn versteht, kommt dem Unglück zuvor und wartet nicht, bis es ihm die Hand entgegenstreckt.


Die wahre Nächstenliebe ist immer gut und wohlwollend, sie liegt ebenso in der Art und Weise der Tat, wie in der Tat selbst. Mit Zartgefühl geleisteter Dienst ist doppelter Dienst; geschieht er aber von oben herab, so mag ihn die Not wohl annehmen, aber das Herz wird wenig gerührt werden.


Erinnert euch auch, dass der, wer sich mit seinem Wohltun brüstet, vor Gottes Augen kein Verdienst mehr hat. Jesus sagte: „Eure Linke wisse nicht, was eure Rechte gibt“, und lehrte euch damit, dass ihr eure Nächstenliebe nicht durch euren Hochmut trüben sollt.


Das eigentliche Almosen geben muss man von der Wohltätigkeit überhaupt wohl unterscheiden. Nicht wer bettelt ist oft der Bedürftigste, die Furcht vor Demütigung hält den wirklich Armen zurück und oft leidet er ohne Klagen. Diesen versteht der wahrhaft Menschliche ohne Prahlerei aufzufinden.


Liebet einander, das ist das ganze Gesetz, das göttliche Gesetz, mit dem Gott die Welten regiert. Die Liebe ist die Anziehungskraft für die lebenden und organischen Wesen; und die Anziehungskraft ist das Gesetz der Liebe für den anorganischen Stoff.


Vergesst nicht, dass der Geist, wie hoch oder wie niedrig auch die Stufe seiner Vervollkommnung und ob er reinkarniert oder im Wanderzustand sei, immer zwischen einem höheren, der ihn leitet und einen niedrigeren, dem er als Führer zu dienen hat, gestellt ist: Übt also Barmherzigkeit, nicht nur mit jenen, die euch aus eure Börse dem einen Pfennig ziehen lässt, um mit Gleichgültigkeit dem zu geben, der euch darum zu bitten wagt, sondern sucht das verborgene Elend auf. Seid nachsichtig gegen die Verkehrtheiten von euresgleichen und statt Unwissenheit und Laster zu verachten, belehrt und bessert sie. Seid milde und wohlwollend gegen alles was tiefer steht, als ihr selbst, seid es sogar gegen die niedrigsten Wesen der Schöpfung und ihr werdet dem Gesetz Gottes damit gehorcht haben.“ (hl. Vincente de Paulo)



889. Gibt es nicht Menschen, die durch ihren eigenen Fehler in Armut verfallen?
„Gewiss, aber wenn eine gute sittliche Erziehung sie das Gesetz Gottes hätte tun gelehrt, würden sie nicht in Ausschweifungen verfallen, die ihren Untergang herbeiführen. Das ist der Punkt, von dem die Besserung eurer Erde hauptsächlich abhängt.“ (707.)





Mutterliebe und Kindesliebe

890. Ist die Mutterliebe eine Tugend oder ein Menschen und Tieren gemeinsames instinktartiges Gefühl?
„Sie ist das eine wie das andere. Die Natur schenkte der Mutter die Liebe zu ihren Kindern mit dem Ziel ihrer Erhaltung, aber bei den Tieren bleibt diese Liebe auf die stofflichen Bedürfnisse beschränkt: Sie hört auf, wenn die Pflege unnötig wird. Beim Menschen dauert diese Liebe das ganze Leben hindurch und beinhaltet eine Hingabe und Selbstlosigkeit, die Tugenden zu nennen sind. Sie überlebt selbst den Tod und folgt dem Kind über das Grab hinaus; ihr seht wohl, das in ihr noch etwas anderes liegt als beim Tier.“ (205. bis 385.)



891. Da die Mutterliebe in der Natur begründet ist,warum gibt es dann Mütter, die ihre Kinder hassen, und oft von deren Geburt an?
„Das ist zuweilen eine vom Geist des Kindes gewählte Prüfung oder auch eine Sühne, wenn es selbst einst ein schlechter Vater oder eine schlechte Mutter oder ein schlechtes Kind in einem anderen Dasein gewesen war. (392.) Jedenfalls kann die schlechte Mutter nur von einem bösen Geist beseelt sein, der das Kind zu belästigen strebt, damit es in der von ihm gewollten Prüfung unterliegt. Aber diese Verletzung der Naturgesetze wird nicht ungestraft bleiben und des Kindes Geist wird für die von ihm überwundenen Hindernisse belohnt werden.“



892. Wenn Eltern Kinder haben, die ihnen Kummer bereiten, sind sie dann nicht zu entschuldigen, wenn sie für dieselben nicht die Zärtlichkeit fühlen, die sie im entgegengesetzten Fall für sie gehabt hätten?
„Nein, denn es ist dies eine ihnen anvertraute Aufgabe und es ist ihre Mission, alles zu tun, um sie zum Guten zu führen. (582. – 583.) Dieser Kummer ist aber auch oft die Folge einer bösen Richtung, die sie ihnen schon in der Wiege zu nehmen gestatteten: Sie ernten dann, was sie gesät haben.“





KAPITEL XII – Moralische Vervollkommnung



Tugenden und Laster

893. Welches ist die verdienstlichste aller Tugenden?
„Alle Tugenden sind verdienstlich, weil sie alle Zeichen des Fortschritts auf dem Weg des Guten sind.


Tugend findet jedes Mal statt, wenn freiwilliger Widerstand gegen schlechten Neigungen stattfindet. Das Erhabene der Tugend aber besteht in dem Opfer des persönlichen Interessen für das Wohl des Nächsten, und zwar ohne Hintergedanken. Die verdienstlichste Tugend ist die, welche auf selbstloseste Nächstenliebe gegründet ist.“


894. Es gibt Leute, die das Gute aus freiwilligem Antrieb tun, ohne dass sie irgendein entgegengesetztes Begehren zu besiegen hätten. Haben nun diese ebenso viel Verdienst wie die, welche gegen ihre eigene Natur kämpfen und sie erst überwinden müssen?
„Bei denen, welche nicht zu kämpfen haben, hat sich der Fortschritt schon früher erfüllt. Sie haben früher schon gekämpft und überwunden; darum kosten ihnen die guten Gefühle keine Anstrengung und ihre Handlungen erscheinen ihnen ganz einfach und selbstverständlich; das Gute ist für sie eine Gewohnheit geworden. Man soll sie darum ehren wie alte Krieger, die ihre Grade sich erkämpften.


Da ihr noch weit von der Vollkommenheit entfernt seid, so wundern euch diese Beispiele durch ihren Kontrast und ihr bewundert sie umso mehr, je seltener sie vorkommen. Wisset jedoch, dass auf den fortgeschritteneren Welten als die eurige das, was bei euch eine Ausnahme ist, die Regel bildet. Das Gefühl und Begehren des Guten ist dort überall ein freiwilliges, weil da nur gute Geister wohnen und eine einzige schlechte Absicht wäre eine ungeheuerliche Ausnahme. Darum sind die Menschen dort glücklich. So wird es auch auf Erden sein, wenn das Menschengeschlecht sich umgewandelt hat, und die Nächstenliebe in ihrem wahren Sinne verstanden und geübt wird.“



895. Welches ist, abgesehen von den Fehlern und Lastern, über die niemand im Irrtum sein kann, das am meisten charakteristische Kennzeichen der Unvollkommenheit?
„Es ist das persönliche Interesse. Die moralische Eigenschaften gleichen oft der auf einem kupfernen Gegenstand angebrachten Vergoldung, die dem Probierstein nicht widersteht. Ein Mensch kann tatsächlich Eigenschaften haben, die ihn für die Welt zum rechtschaffenen Menschen stempeln; sind dieselben aber auch ein Fortschritt, so vertragen sie nicht immer gewisse Prüfungen und zuweilen genügt es, an die Saite des persönlichen Interesses zu rühren, um den Hintergrund abzudecken. Die wahre Selbstlosigkeit ist auf der Erde eine so seltene Sache, dass man sie, wenn sie sich wirklich zeigt, wie ein Phänomen bewundert.
Die Anhänglichkeit an die materiellen Dinge ist ein sicheres Zeichen der Niedrigkeit, da der Mensch, je mehr er an den Dingen dieser Welt hängt, desto weniger seine Bestimmung erkennt. Durch Selbstlosigkeit dagegen beweist er, dass er von einem erhabeneren Standpunkt aus in die Zukunft schaut.“




896. Es gibt uneigennützige Leute ohne Unterscheidungsvermögen, die ihre Habe ohne wirklichen Nutzen verschwenden, da sie keinen vernünftigen Gebrauch davon machen. Haben diese irgendein Verdienst?
„Sie haben das Verdienst der Uneigennützigkeit, aber kein Verdienst um das Gute, das sie tun könnten. Ist die Uneigennützigkeit eine Tugend, so ist die unüberlegte Verschwendung stets wenigstens ein Mangel an Urteilungskraft. Vermögen wird dem einen ebenso wenig dazu verliehen, um es in alle Winde zu zerstreuen, als dem andern um es in einer Geldkiste zu vergraben: Es ist ein anvertrautes Gut, worüber sie Rechenschaft werden zu geben haben, denn sie werden sich über jegliches Gute zu verantworten haben, das sie hätten tun können, aber nicht getan haben, – über alle Tränen, die sie hätten trocknen können mit dem Geld, das sie denen gaben, die dessen nicht bedurften.“



897. Ist der tadelnswert, der das Gute nicht mit Hinblick auf Belohnung hier auf Erden tut, sondern in der Hoffnung, dass es ihm im andern Leben zugute kommen und dass dort seine Lage eine um so bessere sein werde, und schadet ihm dieser Gedanke in seinem Fortschritt?
„Man muss das Gute aus Nächstenliebe tun, d.h. mit Uneigen – nützigkeit.


897a. Dennoch hat jeder den Wunsch, vorwärts zu schreiten, um aus diesem mühevollen Leben herauszukommen: Die Geister selbst lehren uns das Gute zu diesem Zweck zu üben. Ist es nun deswegen vom Übel, wenn man denkt, dass man, wenn man das Gute tut, Besseres als auf Erden erhoffen dürfe?
,,Gewiss nicht, wer aber das Gute ohne Hintergedanken tut und aus reiner Lust, Gott und seinem leidenden Nächsten angenehm zu sein, befindet sich schon auf einer Stufe des Fortschritts, die ihn viel schnell das Glück erreichen lassen wird, als seinen Bruder, der praktischer die Dinge anfassend, das Gute aus Berechnung tut und nicht von der natürlichen Wärme seines Herzens dazu sich angetrieben fühlt.“ (894.)


897b. Muss man da nicht unterscheiden zwischen dem Guten, das man seinem Nächsten erweisen kann und der Mühe, die man sich gibt, sich von seinen Fehlern zu bessern? Wir begreifen, dass Gutes zu tun mit dem Gedanken, es werde uns dafür im anderen eben Rechnung getragen werden, wenig Verdienstliches hat; aber sich selbst bessern, seine Leidenschaften bezwingen, seinen Charakter veredeln in der Aussicht, sich so den guten Geistern zu nähern und sich zu erhöhen, ist das auch ein Zeichen von Niedrigkeit?
„Nein, nein, mit Gutes tun, meinen wir Nächstenliebe üben. Wer da berechnet, was jede gute Handlung ihm im künftigen oder auch im jetzigen Leben eintragen kann, handelt als ein Egoist: es ist aber keinerlei Egoismus sich zu bessern, in der Aussicht, sich Gott zu nähern, weil dies das einem jeden vorgesteckte Ziel ist.“



898. Da das leibliche Leben nur ein zeitweiliger Aufenthalt hier auf Erden ist und da unsere Zukunft unsere hauptsächliche Beschäftigung sein soll, ist es da noch von einigem Nutzen, sich um die Erwerbung wissenschaftlicher Kenntnisse zu mühen, die nur materielle Dinge und Bedürfnisse betreffen?
„Ohne Zweifel. Zunächst setzt euch dies in den Stand, eure Brüder zu unterstützen, sodann wird euer Geist sich schneller erheben, wenn er schon in der Intelligenz fortgeschritten ist. In dem Zwischenraum zwischen den verschiedenen Inkarnationen werdet ihr in einer Stunde so viel lernen, als in Jahren auf der Erde. Keine Kenntnis ist unnütz. Alle tragen mehr oder weniger zum Fortschritt bei, weil der vollkommene Geist alles wissen muss und weil, da der Fortschritt sich nach allen Richtungen erfüllen soll, alle erworbenen Ideen zur Entwicklung des Geistes beitragen.“



899. Von zwei reichen Menschen ist der eine im Reichtum geboren und hat nie ein Bedürfnis empfunden, der andere verdankt sein Vermögen seiner Arbeit. Beide verwenden dasselbe zu ihrer persönlichen Befriedigung: Welcher ist nun der Schuldigere? „Der, welcher das Leiden kennen lernte; er weiß, was Leiden heißt, er kennt den Schmerz und mildert ihn nicht, aber leider nur zu oft gedenkt er desselben nicht mehr.“



900. Wer unaufhörlich zusammenrafft ohne jemanden Gutes zu tun, liegt für diesen eine gültige Entschuldigung in seinem Gedanken, dass er zusammenraffe, um desto mehr seinen Erben zu hinterlassen? „Das ist ein Abkommen mit seinem bösen Gewissen.“



901. Von zwei Geizigen versagt sich der eine das Notwendige und stirbt auf seinem Schatz Hungers, der andere ist nur gegenüber anderen geizig, gegen sich selbst aber verschwenderisch. Während dieser vor dem geringsten Opfer zurückbebt, wenn er einen Dienst erweisen oder überhaupt etwas Nützliches tun soll, so kennt er keinen Geldeswert, wenn er seine Neigungen und Leidenschaften befriedigen will. Ersucht man ihn um einen Dienst, so ist er stets in Verlegenheit; will er eine seiner Launen befriedigen, so hat er stets genug. Welcher ist der Schuldigere und welcher wird in der Geisterwelt den schlechtesten Platz einzunehmen haben?
„Der, welcher genießt: Er ist mehr selbstsüchtig als geizig. Der andere hat bereits einen Teil seiner Strafe gefunden.“



902. Ist es tadelnswert, andere um ihren Reichtum zu beneiden, wenn es aus dem Wunsch geschieht, Gutes tun zu können?
„Das Gefühl ist ohne Zweifel löblich, wenn es rein ist. Ist es aber auch immer ganz selbstlos und verbirgt es keinen persönlichen Hintergedanken? Ist nicht oft die erste Person, der man Gutes zu erweisen wünscht, das liebe Ich?“



903. Ist es strafbar, die Fehler der anderen zu untersuchen?
„Geschieht es um dieselben zu verurteilen und bekannt zu machen, so ist man sehr strafbar, denn das ist Mangel an Nächstenliebe. Geschieht es, um selbst daran zu lernen und sie selbst zu vermeiden, so mag dies zuweilen von Nutzen sein. Man darf aber nicht vergessen, dass Nachsicht gegen die Fehler der anderen eine der Tugenden ist, die zur Nächstenliebe gehören. Bevor ihr anderen ihre Unvollkommenheiten vorwerft, seht, ob man nicht euch dasselbe sagen könnte. Trachtet also nach Eigenschaften, die den Fehlern, die ihr an anderen verurteilt, entgegengesetzt sind, das ist das richtige Mittel, euch höher zu stellen. Dem Geizigen stellt eure Freigebigkeit, dem Hartherzigen eure Güte gegenüber und gegen den Kleinlichen zeigt euch groß, kurz tut so, dass man auf euch nicht Jesu Worte anwenden kann: Ihr seht den Splitter in des Nächsten Auge und den Balken im eigenen seht ihr nicht.“



904. Ist man strafbar, die Schäden der Gesellschaft zu studieren und zu enthüllen?
„Das hängt vom Gefühl ab, das dazu antreibt. Hat der Verfasser nur die Absicht, Ärgernis zu erregen, so ist das ein persönliches Vergnügen, das er sich mit Schilderungen bereitet, die oft eher ein schlechtes als ein gutes Beispiel abgeben. Der Geist mag zwar richtig urteilen, aber er kann für diese Art von Freude an der Enthüllung des Schlechten gestraft werden.“


904a. Wie kann man in einem solchen Fall sich über die Reinheit der Absichten und die Lauterkeit des Schriftstellers ein Urteil bilden?
„Das ist oft nicht einmal nützlich: Schreibt er gute Sachen, so zieht daraus euren Nutzen; macht er es schlecht, so ist das eine ihn allein angehende Gewissensfrage. Ist ihm übrigens daran gelegen, seine Aufrichtigkeit zu beweisen, so ist es an ihm, seine guten Lehren durch sein eigenes Beispiel zu unterstützen.“



905. Gewisse Schriftsteller haben sehr schöne und sehr moralische Werke herausgegeben, die dem Fortschritt der Menschheit förderlich sind, aus denen sie aber für sich selbst keinen Nutzen zogen. Wird ihnen nun als Geister für das durch ihre Werke gestiftete Gute Rechnung getragen?
„Moral ohne Taten heißt Samen ohne Arbeit. Was nützt euch der Samen, wenn ihr ihn nicht Früchte bringen lässt, um euch zu nähren? Diese Menschen sind noch strafbarer, denn sie hatten die Intelligenz, um zu erkennen: Indem sie die von ihnen für die anderen aufgestellten Grundsätze nicht selbst ausübten, verzichteten sie darauf, deren Früchte zu ernten.“




906. Ist der, welcher gut handelt, zu tadeln, wenn er sich dessen bewusst ist und es sich selbst eingesteht?
„Da er das Bewusstsein des Bösen, das er tut, haben kann, so muss er auch das des Guten haben, damit er weiß, ob er gut oder böse handelt. Wenn er alle seine Handlungen in der Waage des Gesetzes Gottes und namentlich in der des Gesetzes der Gerechtigkeit, der Menschen und Nächstenliebe wägt, so wird er sich sagen können, ob sie gut oder böse seien, und wird sie billigen oder missbilligen. Er ist also nicht zu tadeln, wenn er anerkennt, dass er über schlechte Neigungen gesiegt und wenn er sich davon befriedigt fühlt, vorausgesetzt, dass er darauf nicht eitel wird, denn dann würde er in einen anderen Fehler verfallen.“ (919.)




Von den Leidenschaften

907. Ist das Prinzip der Leidenschaften, da es in der Natur liegt, an und für sich böse?
„Nein, die Leidenschaft liegt in dem, mit dem Willen verbundenen Übermaß; denn ihr Prinzip war dem Menschen zum Guten verliehen und sie können ihn zu großen Dingen führen. Der Missbrauch erst erzeugt das Übel.“



908. Wie kann man die Grenze bezeichnen, wo die Leidenschaften aufhören, gut oder böse zu sein?
„Die Leidenschaften gleichen einem Pferd, das nützlich ist, wenn es bemeistert wird, und gefährlich, wenn es selbst den Meister spielt. Merkt euch somit, dass eine Leidenschaft von dem Augenblick an gefährlich wird, wo ihr sie nicht mehr beherrschen könnt, und dass dieselbe dann jedenfalls, sei es für euch oder andere, einen Nachteil mit sich führt.“



Die Leidenschaften sind Hebel, die die Kräfte des Menschen verzehnfachen und ihn bei der Erfüllung der Absichten der Vorsehung unterstützen. Lässt sich aber der Mensch statt sie zu lenken, selbst von ihnen lenken, so verfällt er ins Übermaß und in Ausschreitungen und dieselbe Kraft, die in seiner Hand Gutes stiften konnte, wendet sich gegen ihn und vernichtet ihn. Alle Leidenschaften haben ihr Prinzip in einem natürlichen Gefühl oder Bedürfnis. Ihr Prinzip ist also nicht ein Übel, da es auf einer der von der Vorsehung geschaffenen Bedingungen unseres Daseins beruht. Die Leidenschaft im eigentlichen Wortsinn ist die Übertreibung eines Bedürfnisses oder eines Gefühls. Sie liegt im Übermaß und nicht in der Ursache, und dieses Übermaß wird zum Übel, wenn es irgendein Übel zur Folge hat. Jede Leidenschaft, die den Menschen der tierischen Natur nähert, entfernt ihn von der geistigen. Jedes Gefühl, das den Menschen über die tierische Natur erhebt, verkündigt die Oberherrlichkeit des Geistes über den Stoff und nähert ihn der Vollendung.



909. Sollte der Mensch seine bösen Neigungen immer durch eigene Kraft meistern können?
„Ja, und zuweilen mit nur geringer Anstrengung. Es fehlt ihm nur der Wille. Ach, wie wenige von euch strengen sich an!“



910. Kann der Mensch in den Geistern eine wirksame Hilfe finden zur Bemeisterung seiner Leidenschaften?
„Wenn er Gott und seinen Schutzgeist aufrichtig bittet, so werden die guten Geister ihm gewiss zu Hilfe kommen, denn das ist ihre Sendung.“ (459.)



911. Gibt es nicht so starke und so unwiderstehliche Leidenschaften, dass der Wille sie zu besiegen, ohnmächtig bleibt?
„Es gibt viele Leute, die da sprechen ,,Ich will“, aber der Wille ist nur auf ihren Lippen: Sie wollen etwas und sind innerlich froh, wenn es nicht geschieht. Wenn man seine Leidenschaften nicht glaubt überwinden zu können, so geschieht dies nur, weil der Geist infolge seiner tiefen Stufe sich darin gefällt. Wer sie zurückzudrängen sucht, erkennt seine geistige Natur; bei einem solchen Menschen ist ihre Überwindung ein Sieg des Geistes über den Stoff.“



912. Was ist das wirksamste Mittel, die Vorherrschaft der leiblichen Natur zu bekämpfen?
„Entsagung zu üben.“



Vom Egoismus

913. Was ist die Wurzel alles Bösen?
„Wir sagten es schon oft: der Egoismus. Aus ihm stammt alles Böse. Durchsucht alle Erscheinungen des Bösen und ihr werdet entdecken, dass ihnen allen der Egoismus zugrunde liegt. Ihr könnt die Fehler, die Laster lange bekämpfen, es wird euch nicht gelingen, sie auszurotten, solange ihr das Übel nicht an seiner Wurzel angreift, solange ihr nicht seine Ursache zerstört. Mögen daher alle eure Bemühungen auf dieses Ziel gerichtet sein, denn hier findet sich die wunde Stelle der Gesellschaft. Wer immer schon in diesem Leben sich der moralischen Vollendung nähern will, der muss aller Egoismus aus dem Herzen reißen, denn Egoismus verträgt sich nicht mit Gerechtigkeit und Menschenliebe, er hebt alle guten Eigenschaften auf.“



914. Da der Egoismus auf dem persönlichen Interessen gegründet ist, so scheint es sehr schwer, ihn ganz aus des Menschen Herzen zu reißen. Wird man je dazu gelangen?
„Je mehr sich die Menschen über die geistigen Dinge aufklären, desto weniger Wert werden sie auf die materiellen Dinge legen. Sodann müssen die menschlichen Einrichtungen, welche den Egoismus reizen und unterhalten, verbessert werden. Dies ist Sache der Erziehung.“



915. Da der Egoismus vom Menschengeschlecht unzertrennlich ist, wird er dann nicht stets ein Hindernis bleiben für die Herrschaft des unbedingt Guten auf der Erde?
„Es ist wahr, dass der Egoismus euer größtes Übel ist, aber er liegt in der Niedrigkeit der auf der Erde inkarnierten Geister und nicht in der Menschheit als solche. Wenn sich nun die Geister durch eine Reihe von Inkarnationen reinigen, so verlieren sie den Egoismus, so wie sie ihre anderen Unreinheiten verlieren. Habt ihr denn auf Erden gar keinen Menschen ohne Egoismus, der Nächstenliebe übt? Es gibt deren mehr, als ihr glaubt.

Aber ihr kennt sie kaum, weil die Tugend sich nicht an das Licht des hellen Tages drängt. Gibt es einen, warum sollte es deren nicht zehn geben? Gibt es deren zehn, warum sollten deren nicht tausende zu finden sein und so weiter?“



916. Der Egoismus, weit entfernt abzunehmen, nimmt mit der Zivilisation zu, wird durch sie geweckt und unterhalten. Wie soll nun die Wirkung durch die Ursache vernichtet werden?
„Je größer das Übel, desto hässlicher wird es. Der Egoismus muss viel Übel und Unglück anrichten, um die Notwendigkeit ihrer Ausrottung darzutun. Werden die Menschen einst den Egoismus abgelegt haben, so werden sie leben wie Brüder, sich nichts Böses zufügen und sich einander im Gefühl wechselseitiger Verpflichtung beistehen. Dann wird der Starke die Stütze und nicht der Unterdrücker des Schwachen sein und man wird keine Menschen mehr am Notwendigen Mangel leiden sehen, weil sie alle das Gesetz der Gerechtigkeit üben werden. Das ist die Herrschaft des Guten, welche die Geister vorzubereiten haben.“ (784.)




917. Welches ist das Mittel, den Egoismus auszurotten?
„Von allen menschlichen Unvollkommenheiten ist der Egoismus am schwersten auszurotten, weil er auf dem Einfluss des Stoffes beruht, von welchem letzterem, der seinem Ursprung noch zu nahestehende Mensch sich nicht hat befreien können, und dieser Einfluss und alles wirkt zusammen ihn zu unterhalten: Seine Gesetze, seine gesellschaftliche Organisation, seine Erziehung. Der Egoismus wird abnehmen, je mehr die Vorherrschaft des über das stoffliche Leben zunimmt und besonders je weiter sich die Erkenntnis eures künftigen wirklichen nicht durch bloße Bilder entstellten Zustandes, durch den Spiritismus verbreiten wird. Der richtig verstandene Spiritismus wird, wenn er sich einmal mit Sitten und Glauben vereinigt hat, die gesellschaftlichen Gewohnheiten, Gebräuche und Beziehungen umwandeln. Der Egoismus gründet sich auf die Wichtigkeit, die wir unserer Person beilegen; nun lässt aber der Spiritismus – d.h. der richtig verstandene, ich wiederhole es – die Dinge von so hohem Standpunkt aus erblicken, dass das Gefühl der Persönlichkeit gewissermaßen vor der Unendlichkeit verschwindet. Indem der Spiritismus jene Wichtigkeit vernichtet oder sie wenigstens als das erscheinen lässt, was sie ist, bekämpft er notwendig den Egoismus.


„Was den Menschen oft selbst zum Egoisten macht, das ist, dass er sich vom Egoismus der anderen verletzt fühlt, denn dann fühlt er das Bedürfnis, auf seinen Schutz zu sinnen. Wenn er sieht, dass die andern nur an sich und nicht an ihn denken, so führt ihn dies dazu, sich mehr mit sich als mit den anderen zu beschäftigen. Man mache das Prinzip der Menschen – und Bruderliebe zur Grundlage der gesellschaftlichen Einrichtungen, der gesetzlichen Beziehungen von Volk zu Volk und von Mensch zu Mensch und der Mensch wird weniger an seine eigene Person denken, wenn er sieht, dass andere an sie gedacht haben: Er wird den moralischen Einfluss des Beispiels und des Umgangs fühlen. Gegenüber dieser Überflutung des Egoismus bedarf es einer wahrhaftigen Tugend, um seine eigene Person zu Gunsten der andern zurück zu nehmen, die oft genug es einem nicht einmal danken. Denen hauptsächlich, die diese Tugend besitzen, öffnet sich das Himmelreich. Ihnen vor allen ist die Seligkeit der Auserwählten vorbehalten; denn wahrlich ich sage euch, am Tag des Gerichts wird jeder, der nur an sich selbst gedacht hat, hinausgeworfen und Pein leiden in seiner Verlassenheit.“ (785.)
(Fénelon)


Es werden ohne Zweifel rühmliche Anstrengungen gemacht, die Menschheit vorwärts zu bringen: Mehr als zu jeder anderen Zeit werden gute Gefühle und Neigungen ermutigt, angereizt, geehrt, und doch bleibt der nagende Wurm des Egoismus stets die offene Wunde der Gesellschaft. Er ist ein tatsächliches Übel, das auf jedermann lastet und dessen Opfer mehr oder weniger ein jeder wird. Man muss ihn daher bekämpfen wie eine ansteckende Krankheit. Dann muss man nach Art der Ärzte vorgehen: Zur Quelle muss man sich wenden. Man suche also in allen Teilen des sozialen Organismus, in der Familie bis zu den Völkern und von der Hütte bis zum Palast nach allen Ursachen, offenen und geheimen Einflüssen, welche den Egoismus erregen, unterhalten und entwickeln. Kennt man einmal die Ursachen, so wird sich das Heilmittel von selbst finden. Es wird sich dann nur noch darum handeln, jene zu bekämpfen, wenn nicht alle auf einmal, doch wenigstens teilweise und nach und nach wird das Gift ausgeschieden werden können. Die Heilung mag lange dauern, denn der Ursachen sind viele, aber sie ist nicht unmöglich. Zum Ziel gelangen wird man übrigens nur, wenn man das Übel an der Wurzel angreift, d.h. mit der Erziehung, – nicht mit der, welche unterrichtete Menschen, sondern welche gute Menschen zu schaffen strebt.



Die Erziehung, richtig aufgefasst, ist der Schlüssel zum moralischen Fortschritt. Kennt man einmal die Kunst, die Charaktere zu handhaben, wie man die Kunst der Ausbildung der Intelligenz kennt, so wird man jene wieder aufrichten und gerade machen können, wie man junge Pflanzen aufrichtet. Diese Kunst erheischt jedoch großen Takt, viel Erfahrung und tiefe Beobachtung. Es ist ein schwerer Irrtum, wenn man meint, es genüge wissenschaftliche Bildung, um jene mit Erfolg auszuüben. Ein jeder, der die Ent – wicklung des Kindes des Reichen wie des Armen von seiner Geburt an verfolgt und alle schädlichen Einflüsse beobachtet, die durch die Schwäche, die Sorglosigkeit und Unwissenheit derjenigen auf dasselbe wirken, welche es leiten, wird sich, wenn er sieht, wie oft die angewandten Mittel, es zu moralisieren fehlschlagen, nicht mehr wundern, in der Welt so viel Verkehrtheiten zu erblicken. Man tue für das Moralische so viel, wie man für die Intelligenz tut, und man wird sehen, dass, wenn es auch widersetzliche Naturen gibt, es doch mehr als man denkt solche gibt, die nur eine gute Pflege verlangen, um gute Früchte zu tragen. (872.)


Der Mensch will glücklich sein, dieses Gefühl liegt in der Natur. Darum arbeitet er unaufhörlich, seine Lage auf der Erde zu ver – bessern. Er forscht nach den Ursachen seiner Übel, um Abhilfe zu schaffen. Wenn er einmal gründlich erkannt haben wird, dass der Egoismus einer jener Ursachen ist, nämlich die, welche Hochmut, Ehrgeiz, Begehrlichkeit, Neid, Hass, Eifersucht gebiert, von denen er jeden Augenblick verletzt wird, welche Verwirrung in alle gesellschaftlichen Verhältnisse bringt, Zwietracht sät, das Vertrauen untergräbt, die uns nötigt, uns beständig im Verteidigungszustand gegenüber unseren Nachbarn zu halten, die letztendlich den Freund uns zum Feind macht, dann wird er auch erkennen, dass dieses Laster mit seinem eigenen Glück sich nicht verträgt, ja, fügen wir hinzu, nicht einmal mit seiner Sicherheit. Je mehr er darunter leidet, desto mehr wird er die Notwendigkeit einsehen, es zu bekämpfen, so gut als er die Pest, die schädlichen Tiere und alle anderen Landplagen bekämpft. Durch sein eigenes Interesse wird er dazu aufgefordert. (784.)


Der Egoismus ist die Quelle allen Übels und aller Fehler und Laster, so wie die Menschenliebe die Quelle aller Tugenden. Die eine ausrotten, die andere entwickeln, das muss das Ziel aller Anstrengungen des Menschen sein, wenn er sich sein Glück sowohl hier auf Erden, als in der Zukunft sichern will.




Merkmale des rechtschaffenen Menschen

918. An welchen Zeichen kann man bei einem Menschen jenen wirklichen Fortschritt erkennen, der ihn in der Rangordnung der Geister erhöhen muss?
„Der Geist beweist seine Erhöhung, wenn all sein Tun im leiblichen Leben eine Erfüllung des Gesetzes Gottes ist und wenn er das geistige Leben schon jetzt im Voraus erkennt.“


Ein wahrhaft, rechtschaffener Mensch ist der, welcher das Gesetz der Gerechtigkeit, der Liebe und Nächstenliebe in größter Reinheit erfüllt. Fragt er sein Gewissen über das, was er getan hat, so wird er sich prüfen, ob er nicht jenes Gesetz übertreten, ob er nicht Böses getan, ob er alles Gute getan, das er gekonnt, ob niemand sich über ihn zu beklagen hatte, letztendlich, ob er den andern so getan hat, wie er wollte, dass man ihm tue.


Der von Liebe – und Nächstenliebe durchdrungene Mensch tut das Gute um des Guten willen, ohne auf Wiedervergeltung zu hoffen und opfert sein eigenes Interesse der Gerechtigkeit.


Er ist gut, menschlich und wohlwollend gegen jedermann, weil er in allen Menschen seine Brüder sieht ohne Rücksicht auf Stamm oder Glauben.


Wenn ihm Gott Macht und Reichtum gab, so betrachtet er diese als ein anvertrautes Gut, das er zum Guten verwenden soll. Er ist nicht eitel darauf, denn er weiß, dass Gott, der es ihm gegeben hat, es ihm wieder nehmen kann.


Hat die gesellschaftliche Ordnung Menschen in Abhängigkeit von ihm gesetzt, so behandelt er sie mit Güte und Wohlwollen, weil sie seinesgleichen sind vor Gott. Er macht von seinem Ansehen Gebrauch, um sie moralisch zu fördern, nicht um sie mit seinem Hochmut niederzutreten.


„Er ist nachsichtig gegen die Schwächen anderer, weil er weiss, dass er selbst der Nachsicht bedarf und weil er sich Christi Wort erinnert: ,,Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.“


„Er ist nicht rachsüchtig; nach Jesu Beispiel vergibt er Beleidigungen und erinnert sich nur des Guten, denn er weiß, dass ,,ihm vergeben wird, wie er selbst vergibt.“


„Er achtet endlich bei seinesgleichen alle Rechte, welche ihnen die Gesetze der Natur verleihen, wie er wünscht, dass man sie auch ihm gegenüber achte.“





Selbsterkenntnis

919. Was ist das wirksamste praktische Mittel, um sich in diesem Leben zu vervollkommnen und den Lockun gen des Bösen zu widerstehen?

„Ein Weiser des Altertums hat euch gesagt: ,,Erkenne dich selbst.“


919a. Wir erkennen die ganze Weisheit dieses Grundsatzes, aber die Schwierigkeit liegt gerade darin, sich selbst zu erkennen. Wie gelangt man hierzu?


„Tut, was ich selbst tat, als ich auf Erden lebte: Am Schluss des Tages befragte ich mein Gewissen, was ich getan, ließ es an mir vorüberziehen und fragte mich, ob ich mich nicht gegen irgendeine Pflicht verfehlt habe, ob niemand sich über mich zu beklagen gehabt hat. So gelangte ich dazu, mich selbst zu kennen und zu wissen, was an mir gebessert werden muss. Wer jeden Abend alles, was er den Tag über getan, sich zurückrufen und sich fragen würde, was er Gutes oder Böses getan hat, und dabei Gott und seinen Schutzengel um Erleuchtung bäte, der würde sich eine große Kraft zu seiner Vervollkommnung erwerben, denn, glaubt es mir, Gott wird ihm beistehen. Stellt euch daher bestimmte Fragen über das, was ihr getan und zu welchem Zweck ihr bei der und der Gelegenheit so und so gehandelt habt, ob ihr etwas getan habt, das ihr, wenn ein anderer es täte, tadeln würdet, ob ihr etwas getan habt, das ihr nicht eingestehen dürftet. Fragt euch auch noch das: Wenn es Gott gefiele, euch in diesem Augenblick abzurufen, hätte ich dann bei meiner Rückkehr in die Welt der Geister, wo nichts verborgen bleibt, jemandes Anblick zu scheuen? Prüft, was ihr gegenüber Gott, dann gegenüber eueren Nächsten, endlich gegenüber euch selbst möget getan haben. Die Antworten werden ein Ruhepunkt für euer Gewissen sein oder eine Hinweisung auf ein Übel, das ihr zu heilen habt.


Die Selbsterkenntnis ist also der Schlüssel zur Selbsterhöhung und Selbstbesserung. Aber, werdet ihr fragen, wie sich selbst richten? Täuscht einen nicht die Eigenliebe, welche unsere Fehler verkleinert und sie vor uns entschuldigt? Der Geizige hält sich einfach nur für haushälterisch und vorsichtig, der Hochmütige meint nur, Würde zu besitzen. Das ist alles nur zu wahr, aber ihr habt ein Mittel zur Gegenprobe, das nicht trügt. Wenn ihr über den Wert einer eurer Handlungen unentschieden seid, so fragt euch, wie ihr sie beurteilen würdet, wenn ein anderer sie täte. Tadelt ihr sie an einem anderen, so kann sie als die eurige nicht besser sein, denn Gott hat nur ein Maß für die Gerechtigkeit. Sucht auch zu vernehmen, was andere davon denken, und vernachlässigt nicht die Meinung eurer Feinde, denn diese haben keinerlei Grund, die Wahrheit schön zu färben und oft stellt Gott sie an eure Seite euch zum Spiegel, um euch mit mehr Freimut zu warnen, als ein Freund es täte. Möge also der, dem es ernst ist mit dem Willen sich zu bessern, sein eigenes Selbst erforschen, um daraus die bösen Neigungen auszurotten, wie er das Unkraut aus seinem Garten ausrottet. Er ziehe die Bilanz seines moralischen Tagewerkes, wie der Kaufmann die seines Verlustes und Gewinnes und ich sage euch, die eine wird ihm mehr eintragen, als die andere. Kann er sich sagen, dass sein Tagewerk gut war, so kann er in Frieden schlafen und furchtlos sein Erwachen in einem andern Leben erwarten.


Stellt euch also deutliche und bestimmte Fragen und fürchtet euch nicht, sie zu vermehren: Man darf schon einige Minuten daran wenden, ein ewiges Glück sich zu erwerben. Arbeitet ihr nicht alle Tage, um euch so viel zu sammeln, dass ihr eure alten Tage in Ruhe hinbringen könnt? Ist jene Ruhe nicht das Ziel aller eurer Wünsche, das euch zeitweilige Mühe und Entbehrung ertragen lässt? Nun denn, was ist jene Ruhe von einigen Tagen, noch dazu getrübt von der Gebrechlichkeit des Leibes, gegenüber derjenigen, die den guten Menschen erwartet? Lohnt es sich etwa nicht dafür einige Anstrengungen zu machen? Ich weiß, dass viele sagen, die Gegenwart sei sicher und die Zukunft unsicher. Das ist nun aber gerade der Gedanke, den wir in euch auszurotten beauftragt sind; denn wir wollen euch jene Zukunft in einer Weise erkennen lassen, dass sie keinen Zweifel mehr in eurer Seele aufkommen lässt. Darum erregten wir zuerst eure Aufmerksamkeit durch Erscheinungen, die eure Sinne befremden mussten und nun geben wir euch Belehrungen, die jeder von euch zu verbreiten verpflichtet ist. Zu diesem Zweck diktierten wir das Buch der Geister.“


hl. Augustinus

Viele von uns begangene Fehler werden von uns nicht bemerkt. Wenn wir wirklich öfter unser Gewissen befragten, so würden wir sehen, wie oft wir fehlten, ohne nur daran zu denken, weil wir es versäumten, Natur und Beweggrund unseres Tuns zu erforschen. Die Frageform hat etwas viel Bestimmteres als ein allgemeiner Grundsatz, den man oft nicht auf sich anwendet. Sie verlangt bestimmte Antworten, mit Ja oder Nein, die kein entweder oder übrig lassen: Es sind ebenso viele von uns selbst hergenommene Beweise, und nach der Summe der Antworten kann man die Summe des Guten und Bösen schätzen, die in uns ist.