Himmel und Hölle oder Die göttliche Gerechtigkeit

Allan Kardec

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Kapitel V - Das Fegefeuer

1. Das Evangelium (die Heilsbotschaft von Christus) erwähnt das Fegefeuer an keiner Stelle. Es wurde von der Kirche erst im Jahre 593 angenommen. Es ist sicherlich ein vernünftigeres Dogma, das mehr der Gerechtigkeit Gottes entspricht als das der Hölle, da es weniger strenge Strafen vorsieht und auch für mittelschwere Vergehen eine Erlösung ermöglicht.

Das Prinzip vom Fegefeuer beruht also auf Angemessenheit. Denn, verglichen mit der Gerechtigkeit Gottes, ist dies eine Gefangenschaft auf Zeit neben der Verurteilung auf Ewigkeit. Was sollte man von einem Land denken, das für Verbrechen und einfache Vergehen nur die Todesstrafe verhängt? Ohne das Fegefeuer gibt es für die Seelen nur die beiden extremen Alternativen: unbeschränkte Glückseligkeit und ewige Bestrafung. Was wird bei dieser Annahme aus den Seelen, die nur leichte Vergehen begangen haben? Entweder teilen sie das Glück der Auserwählten, ohne vollkommen zu sein, oder sie erleiden die gleichen Strafen wie die größten Verbrecher, ohne viel Böses getan zu haben, was weder gerecht noch vernünftig wäre.


2. Aber der Begriff des Fegefeuers musste gezwungenermaßen unvollständig sein. Deshalb hat man daraus, da man nur die Strafe des Feuers kannte, eine verkleinerte Hölle gemacht. Die Seelen brennen auch dort, aber in einem weniger heftigen Feuer. Da ein Fortschritt mit dem Glaubenssatz von den ewigen Strafen unvereinbar ist, so gehen die Seelen daraus nicht infolge ihres Vorankommens hervor, sondern durch die Kraft der Gebete, die man spricht oder zu ihren Gunsten sprechen lässt.

Wenn der Grundgedanke gut gewesen ist, so gilt dies nicht ebenso für seine Folgerungen, wegen der Missbräuche, deren Quelle er war. Mit Hilfe bezahlter Gebete ist das Fegefeuer eine ergiebigere Geldquelle als die Hölle geworden. („Mit dem Fegefeuer begann der verwerfliche Handel mit Ablassbriefen (Indulgenzen), mit denen man den Eintritt in den Himmel verkaufte. Dieser Missbrauch war die erste Ursache der Erneuerung der Kirche (Reformation). Das hat Luther dazu bewogen, das Fegefeuer abzulehnen.“)


3. Der Ort des Fegefeuers ist nie fest bestimmt worden, ebenso wenig ist die Art der Strafen, die man dort erleidet, klar bezeichnet worden. Es war der neuen Offenbarung vorbehalten, diese Lücke zu schließen, denn sie erklärt uns die Ursachen des Jammers und des Elends des irdischen Lebens, deren Gerechtigkeit uns nur die Vielzahl der Existenzen zeigen konnte.

Dieses Leiden ist notwendigerweise die Folge der Unvollkommenheiten der Seele, denn wenn die Seele vollkommen wäre, so würde sie keine Fehler begehen und hätte nicht die Folgen davon zu tragen. Ein Mensch, der in allem zurückhaltend und maßvoll wäre, würde z.B. nicht den Krankheiten zum Opfer fallen, die durch Maßlosigkeit verursacht werden. Am häufigsten ist er hier auf Erden durch die eigene Schuld unglücklich. Aber wenn er unvollkommen ist, dann deshalb, weil er es bereits war, bevor er auf die Erde kam. Er büßt hier nicht nur seine gegenwärtigen Fehler, sondern die vorhergehenden, die er noch nicht wieder gut gemacht hat. Er erduldet in einem Leben die Prüfungen, die er andere in einer vorherigen Inkarnation hat erdulden lassen. Die Wechselfälle, die er erlebt, sind zugleich eine vorübergehende Bestrafung und ein Hinweis auf die Unvollkommenheiten, die er ablegen soll, um zukünftiges Unheil zu vermeiden und in Richtung des Guten fortzuschreiten. Das sind lehrreiche Erfahrungen für die Seele, manchmal schwer, aber umso nützlicher für die Zukunft, weil sie einen tieferen Eindruck hinterlassen. Die Wechselfälle sind der Anlass für unaufhörliche Kämpfe, die ihre Kräfte und ihre moralischen und geistigen Fähigkeiten entwickelt, sie im Guten bestärkt und aus denen sie immer siegreich hervorgeht, wenn sie den Mut hat, die Verpflichtung bis zum Ende auch auszuhalten. Der Preis des Sieges liegt im geistigen Leben, in das sie strahlend und triumphierend eintritt, wie der Soldat, der aus dem Kampf hervorgeht und nun die Siegespalme empfängt.


4. Jede Inkarnation ist für die Seele eine Gelegenheit, einen Schritt vorwärtszugehen. Von ihrem Willen hängt es ab, dass dieser Schritt so groß wie möglich ist, mehrere Sprossen der Leiter emporzusteigen oder auf derselben Stelle stehenzubleiben. In diesem letzteren Fall hat sie ohne Nutzen gelitten, und da es immer notwendig ist, ihre Schuld früher oder später zu bezahlen, so wird sie eine neue Existenz beginnen müssen, und zwar unter noch schmerzlicheren Verhältnissen, weil sie zu einer nicht bezahlten Schuld noch eine weitere hinzugefügt hat.

In aufeinanderfolgenden Inkarnationen legt die Seele also nach und nach ihre Unvollkommenheiten ab, reinigt sich, kurzgesagt, bis sie hinreichend rein ist, um zu verdienen, dass sie die Welten der Sühne mit glücklicheren Welten tauschen und später auch diese verlassen kann, um das höchste Glück zu genießen.

Das Fegefeuer ist also nicht mehr ein ungenauer und ungewisser Begriff, er hat eine höhere Wirklichkeit, die wir sehen, berühren und ertragen. Er liegt in den Welten der Sühne, und die Erde ist eine dieser Welten. Die Menschen sühnen dort ihre Vergangenheit und ihre Gegenwart zugunsten ihrer Zukunft. Aber entgegen der Vorstellung, die man sich davon macht, hängt es von jedem Einzelnen ab, ob er seinen dortigen Aufenthalt verkürzt oder verlängert, entsprechend des Fortschritts und der Läuterung, zu der er durch seine Arbeit an sich selbst gelangt ist. Man verlässt das Fegefeuer nicht, weil man seine Zeit beendet hat oder durch Verdienste anderer, sondern infolge seines eigenen Verdienstes, gemäß jenem Worte Christi: "Jedem nach seinen Werken!", eine Aussage, die die ganze Gerechtigkeit Gottes zusammenfasst.


5. Derjenige also, der in diesem Leben leidet, soll sich sagen, dass dies geschieht, weil er sich in seiner vorhergehenden Existenz nicht hinreichend gereinigt hat, und dass, wenn er das nicht in der gegenwärtigen tut, er noch in den darauffolgenden leiden wird. Das ist gerecht und logisch zugleich. Da das Leiden mit der Unvollkommenheit verbunden ist, so leidet man genauso lange, wie man unvollkommen ist, ebenso wie man bei einer Krankheit so lange leidet, bis man davon geheilt ist. So kommt es, dass ein Mensch, solange er hochmütig ist, an den Folgen des Hochmuts leiden wird und solange er egoistisch ist, die Folgen des Egoismus leiden wird.


6. Der schuldige Geist leidet zunächst im geistigen Leben im Verhältnis zu dem Maß seiner Unvollkommenheiten. Dann wird ihm das körperliche Leben als Mittel zur Wiedergutmachung gegeben. Aus diesem Grund findet er sich dort wieder, sei es mit denen, die er gekränkt hat, sei es in ähnlichen Umgebungen, in denen er Böses getan hat, sei es in Situationen, die davon das Gegenteil sind, wie z.B. im Elend zu sein, wenn er ein schlechter Reicher gewesen oder in einer demütigen Lebensstellung, wenn er hochmütig gewesen ist.

Die Sühne stellt weder in der geistigen Welt noch auf der Erde eine doppelte Bestrafung für das Geistwesen dar. Sie ist dieselbe, die sich als Ergänzung auf Erden fortsetzt, um seine Verbesserung durch wirksame Arbeit zu erleichtern. Es hängt von ihm ab, diese zu nutzen. Ist es nicht besser für ihn auf die Erde zurückzukehren mit der Möglichkeit, den Himmel zu gewinnen, als ohne Gnade verdammt zu sein, wenn er sie verlässt? Die Freiheit, die ihm hier bewilligt wird, ist ein Zeugnis von der Weisheit, Güte und Gerechtigkeit Gottes, der will, dass der Mensch alles seinen eigenen Anstrengungen verdankt und der Architekt seiner Zukunft wird. Wenn er unglücklich ist und das mehr oder minder lang, kann er daher nur sich selbst dafür verantwortlich machen. Der Weg des Fortschritts steht ihm jederzeit offen.


7. Wenn man bedenkt, wie groß das Leid gewisser mit Schuld beladener Geister in der unsichtbaren Welt ist, wie schrecklich die Lage von so manchen ist, welchen Ängsten sie zum Opfer gefallen sind und wie sehr diese Lage durch ihr Unvermögen zu einer schmerzlichen gemacht wird, dadurch, dass sie außerstande sind, ein Ende derselben abzusehen. Man könnte sagen, dass das für sie die Hölle sei, wenn dieses Wort nicht die Vorstellung einer ewigen und physischen Bestrafung einschließen würde. Dank der Offenbarung der Geistwesen und der Beispiele, die sie uns bieten, wissen wir, dass die Dauer der Sühne von der Besserung des Schuldigen abhängt.


8. Der Spiritismus leugnet also nicht die zukünftigen Strafen, sondern bestätigt sie im Gegenteil. Was er zerstört, ist die örtlich begrenzte Hölle mit ihren Schmelzöfen und unwiderruflichen Strafen. Er leugnet nicht das Fegefeuer, da er ja beweist, dass wir bereits dort sind. Er definiert und bestimmt es genau, indem er sich mit der Ursache der irdischen Leiden auseinandersetzt und bringt damit diejenigen dazu, die es leugnen, daran zu glauben.

Lehnt er die Gebete für die Verstorbenen ab? Ganz im Gegenteil, da leidende Geister ja darum bitten, macht er es zur Pflicht der Nächstenliebe und zeigt ihre Wirksamkeit, indem er sie zum Guten zurückführt und dadurch ihre Qualen verkürzt ("Das Evangelium aus der Sicht des Spiritismus” - Kap. 27: "Die Wirksamkeit des Gebets"). Indem er den Verstand anspricht, hat er die Ungläubigen zum Glauben zurückgebracht und diejenigen zum Gebet, die sich darüber lustig machten. Aber er sagt, dass die Wirksamkeit des Gebets in den Gedanken und nicht in den Worten liegt, dass die besten Gebete die des Herzens und nicht die der Lippen sind und die, die man selbst spricht und nicht die, die man für Geld sprechen lässt. Wer würde es wagen, ihm die Schuld zu geben?


9. Gleichgültig, ob die Strafe im geistigen Leben oder auf der Erde stattfindet und wie lange sie dauern mag, sie hat immer ein mehr oder weniger entferntes oder nahes Ende. Es gibt also in Wirklichkeit für den Geist nur zwei Möglichkeiten: eine zeitlich begrenzte, nach Art der Schuld abgestufte Strafe und eine nach dem Verdienst abgestufte Belohnung. Die Spiritistische Lehre weist eine dritte Möglichkeit zurück, nämlich die der ewigen (endlosen) Verdammnis. Die Hölle - das Wort - bleibt als Symbolfigur der größten Leiden, deren Ende unbekannt ist. Das Fegefeuer ist da die Wirklichkeit.

Das Wort “Fegefeuer” erweckt die Vorstellung einer begrenzten Örtlichkeit. Darum lässt es sich mehr auf die Erde anwenden, die als Ort der Sühne betrachtet wird, weniger auf den unendlichen Raum, wo die leidenden Geister umherirren, und darüber hinaus ist die Art der irdischen Sühne die einer wirklichen und echten Sühne.

Wenn die Menschen sich einmal gebessert haben, so werden sie der unsichtbaren Welt nur gute Geister liefern und diese werden, wenn sie inkarnieren, der Menschheit nur verbesserte Wesen bringen. Dann wird die Erde aufhören, eine Welt der Abbüßungen zu sein, und die Menschen werden auf ihr nicht mehr die Folgen ihrer Unvollkommenheiten erleiden. Diese Transformation vollzieht sich im Augenblick und wird die Erde in der Hierarchie der Welten emporheben. (Siehe:” Das Evangelium aus der Sicht des Spiritismus", Kap. 3).


10. Warum also hat Christus dann nicht vom Fegefeuer gesprochen? Deshalb, weil der Begriff nicht existierte und es keine Worte gab, um es sich vorzustellen. Er benutzte das Wort "Hölle", des einzigen, das in Gebrauch war, als eines entsprechenden Ausdrucks, um die künftigen Strafen ohne Unterschied zu bezeichnen. Hätte er neben das Wort "Hölle" ein mit "Fegefeuer" gleichbedeutendes Wort gestellt, so hätte er dessen wahren Sinn nicht genau erklären können, ohne eine der Zukunft vorbehaltene Frage anzuschneiden. Dies wäre außerdem die Bejahung der Existenz zweier besonderer Orte der Sühne gewesen. Da die Hölle in ihrer allgemeinen Bedeutung die Vorstellung einer Bestrafung erweckte, schloss sie die eines Fegefeuers mit ein, das ja nur eine Form der Strafe ist. Die Zukunft, die die Menschen über die Art der Strafen aufklären sollte, musste gerade deswegen die Hölle auf ihre richtige Bedeutung zurückführen.

Da die Kirche geglaubt hat, sie müsse nach sechs Jahrhunderten das Stillschweigen Jesu ergänzen, indem sie die Existenz des "Fegefeuers" per Erlass festsetzte, dann deshalb, weil sie dachte, er hätte nicht alles gesagt. Warum sollte es bezüglich anderer Punkte damit anders sein als bei diesem hier?