Himmel und Hölle oder Die göttliche Gerechtigkeit

Allan Kardec

Sie sind in: Himmel und Hölle oder Die göttliche Gerechtigkeit > Zweiter Teil - Beispiele > Kapitel VIII - Irdische Sühnen > Joseph Maître

Ein Blinder.

Joseph Maître gehörte der mittleren Klasse der Gesellschaft an. Er genoss einen bescheidenen Wohlstand, der ihn vor Not schützte. Seine Eltern hatten ihm eine gute Erziehung geben lassen und bestimmten ihn zum Erwerbsleben, aber im Alter von zwanzig Jahren wurde er blind. Er starb im Jahre 1845, um sein 50. Lebensjahr. Ein zweites Gebrechen befiel ihn, ungefähr zehn Jahre vor seinem Tod war er vollständig taub geworden, sodass er nun seine Beziehungen mit den Lebenden nur durch Betasten pflegen konnte. Nicht mehr zu sehen, war schon recht schmerzlich. Aber nicht mehr zu hören, war eine harte Strafe für den, der, nachdem er sich all seiner Fähigkeiten erfreut hatte, umso mehr die Wirkungen dieser zweifachen Beraubung empfinden sollte. Was hatte ihm wohl dieses traurige Los zuziehen können? Es war nicht seine letzte Existenz, denn seine Führung war immer vorbildlich gewesen. Er war ein guter Sohn, von mildem und wohlwollendem Charakter, und als er sich auch noch des Gehörs beraubt sah, nahm er diese neue Prüfung mit Resignation hin, und nie hörte man ihn eine Klage murmeln. Seine Reden bekundeten völlige Geistesklarheit und einen ungewöhnlichen Verstand. Jemand, der ihn gekannt hatte, setzte voraus, man werde aus einer Unterhaltung mit seinem Geist, wenn man ihn rufe, nützliche Lehren ziehen können, und empfing von ihm folgende Mitteilung als Antwort auf die Fragen, die an ihn gerichtet wurden.

(Paris, 1863.)

Liebe Freunde, ich danke euch, dass ihr euch an mich erinnert habt, obwohl ihr vielleicht nicht daran gedacht haben würdet, wenn ihr nicht gehofft hättet, aus meiner Mitteilung einigen Nutzen zu ziehen. Ich weiß jedoch, dass euch ein ernsterer Beweggrund treibt. Darum füge ich mich mit Freuden eurem Ruf. Man ist ja so gütig, es mir zu gestatten, und es beglückt mich, eurer Belehrung dienen zu können. Möge mein Beispiel den so zahlreichen Beweisen, die euch von den Geistern gegeben werden, für die Gerechtigkeit Gottes, nun einen neuen hinzufügen.

Ihr habt mich als einen Blinden und Tauben gekannt und habt euch gefragt, was ich getan hätte, um ein derartiges Los zu verdienen. Ich will es euch sagen. Wisst zunächst: dies ist das zweite Mal, dass ich des Augenlichts beraubt worden bin. In meiner vorausgegangenen Existenz, die am Anfang des vorigen Jahrhunderts stattfand, wurde ich blind im Alter von dreißig Jahren, infolge von Ausschreitungen jeder Art, die meine Gesundheit zu Grunde gerichtet und meine Sinneswerkzeuge geschwächt hatten. Dies war schon eine Bestrafung dafür, dass ich die Gaben missbrauchte, die ich von der Vorsehung empfangen hatte, denn ich war reich begabt. Anstatt jedoch anzuerkennen, dass ich die erste Ursache meiner Gebrechen war, klagte ich dieselbe Vorsehung darüber an, an die ich übrigens wenig glaubte. Ich habe Lästerungen gegen Gott ausgestoßen, habe Ihn geleugnet, Ihn angeklagt, indem ich sagte, wenn Er da sei, müsse Er ungerecht und böse sein, da Er ja Seine Geschöpfe so leiden lasse. Ich hätte mich im Gegenteil glücklich schätzen sollen, dass ich nicht, wie so viele andere elende Blinde, genötigt war, mein Brot zu erbetteln. Aber nein! Ich dachte nur an mich und an die mir auferlegte Entbehrung von Genüssen. Unter der Herrschaft dieser Gedanken und meines Mangels an Glauben war ich mürrisch, anspruchsvoll, mit einem Wort unleidlich geworden für die, die um mich waren. Das Leben war von da an ohne Sinn für mich. Ich dachte nicht an die Zukunft, die ich vielmehr für ein Traumbild ansah. Nachdem ich erfolglos alle Hilfsquellen der Wissenschaft erschöpft hatte und sah, dass meine Heilung unmöglich war, beschloss ich, der Sache früher ein Ende zu machen und ermordete mich.

Bei meinem Wiedererwachen war ich, ach! in dieselbe Finsternis gebettet wie während meines Lebens. Es dauerte jedoch nicht lange, bis ich erkannte, dass ich nicht mehr der Körperwelt angehörte, sondern ein blinder Geist war. Das Leben im Jenseits war also eine Wirklichkeit! Vergeblich versuchte ich, es mir zu nehmen, um mich ins Nichts zu versenken. Ich stieß ins Leere. Wenn dieses Leben ewig sein sollte, wie ich es hatte sagen hören, so würde ich also die Ewigkeit hindurch in dieser Lage sein? Der Gedanke war schrecklich. Ich musste nicht leiden. Euch aber die Qualen und Ängste meines Geistes zu beschreiben, wäre etwas Unmögliches. Wie lange das gedauert hat? Ich weiß es nicht, aber wie lang erschien mir diese Zeit!

Erschöpft und ermattet kam ich endlich wieder zu mir selbst. Ich begriff, dass eine höhere Macht schwer auf mir lastete. Ich sagte mir, wenn diese Macht mich niederdrücken könne, so könne sie mich auch aufrichten, und ich flehte um ihr Erbarmen. In dem Maße, wie ich betete und wie mein Eifer sich verstärkte, hörte ich etwas zu mir sagen, diese grauenvolle Lage werde ein Ende haben. Endlich wurde es Licht. Mein Entzücken stieg aufs Höchste, als ich aus der Ferne die Herrlichkeiten des Himmels wahrnahm und die Geister unterscheiden konnte, die mich unter wohlwollendem Lächeln umringten, und jene, die strahlend im Raum dahinschwebten. Ich wollte ihren Spuren folgen, aber eine unsichtbare Kraft hielt mich zurück. Da sprach einer von ihnen zu mir: "Gott, Den du geleugnet hast, hat dir deine Bekehrung zu Ihm angerechnet und uns erlaubt, dir das Licht wiederzuschenken. Du aber hast nur dem Zwang und der Ermüdung nachgegeben. Wenn du von nun an an dem Glück teilhaben willst, das man hier genießt, so musst du beweisen, dass deine Reue und deine guten Gesinnungen aufrichtig sind, indem du deine irdische Prüfung von neuem antrittst, unter Bedingungen, bei denen du der Gefahr ausgesetzt bist, in dieselben Fehler zurückzufallen. Denn diese neue Prüfung wird noch härter sein als die erste." Ich nahm sie bereitwillig an und fasste den festen Vorsatz, nicht zu straucheln.

Ich bin also auf die Erde zurückgekehrt und habe jene Existenz angetreten, die ihr kennt. Es fiel mir nicht schwer, gut zu sein, denn böse war ich von Haus aus nicht. Ich hatte mich gegen Gott aufgelehnt, und Gott hatte mich bestraft. Ich kam dorthin zurück mit dem angeborenen Glauben an Ihn. Aus diesem Grund murrte ich nicht mehr gegen Ihn und nahm mein zweifaches Gebrechen mit Ergebung und als eine Sühne hin, die ihre Quelle in der allerhöchsten Gerechtigkeit haben musste. Die Vereinsamung, in der ich mich in den letzten Lebensjahren befunden habe, hatte nichts Hoffnungsloses, da ich Glauben an die Zukunft und an Gottes Barmherzigkeit besaß. Sie ist mir sehr nützlich gewesen, denn während dieser langen Nacht, in der alles Schweigen war, schwang sich meine nun freiere Seele zum Ewigen auf und nahm den Unendlichen im Gedanken von Ferne wahr. Als das Ende meiner Verbannung kam, da hat die Geisterwelt für mich nur Glanz und unaussprechliche Freuden gehabt.

Ein Vergleich mit der Vergangenheit lässt mich meine Lage als verhältnismäßig sehr glücklich sehen, und ich sage Gott Dank dafür. Wenn ich jedoch vorwärts blicke, so sehe ich, wie weit entfernt ich noch vom vollkommenen Glück bin. Ich habe gesühnt, nun muss ich wiedergutmachen. Meine letzte Existenz ist lediglich für mich selbst gewinnbringend gewesen. Ich hoffe, bald wieder eine neue zu beginnen, in der ich anderen nützlich sein kann. Das wird die Wiedergutmachung für meine vorhergehende Nutzlosigkeit sein. Erst dann werde ich auf der gepriesenen Bahn fortschreiten, die allen Geistern geöffnet ist, die guten Willens sind.

Da habt ihr meine Geschichte, Freunde! Wenn mein Beispiel etliche meiner inkarnierten Brüder aufklären und sie vor dem Morast bewahren kann, in den ich gesunken bin, so habe ich begonnen, meine Schuld abzutragen.

Joseph.